Sub Altern Metro Map – Fluchbahnen nach Europa erzählt

Sub Altern Metro Map – Fluchbahnen nach Europa erzählt

Die Sub Altern Metro Map beruht auf persönlichen Fluchtgeschichten und nicht auf reinen Zahlen. Jede Linie steht für einen individuellen Weg nach Europa – mit Abzweigungen, Unterbrechungen und Risiken. Viele Routen ähneln bekannten Korridoren, weichen aber immer wieder ab. Für Menschen aus dem Globalen Süden gibt es keine verlässlichen, geschweige denn sicheren Wege.

Die Dokumentation

Die Linien U1 bis U17 stützen sich auf Berichte und Recherchen von TONIC, dem Partner Emerge sowie Beiträgen von ZEIT und ZEIT Online, Süddeutscher Zeitung, taz und fluter. Nachfolgend die neu formulierten Zusammenfassungen.

U1 – Tunesien → Deutschland

Riadh Ben Ammar beantragt mehrfach ein Visum; erst der dritte Anlauf führt – auf Umwegen und mit falschen Angaben – zum Flug nach Amsterdam. Weiterfahrt Richtung Kopenhagen, Kontrolle in Puttgarden, Rückkehr nach Hamburg. Das Kurzvisum ist abgelaufen, er stellt Asyl. Später wird er Regisseur und engagiert sich bei Afrique-Europe-Interact. In Gesprächen betont er: Grenzen kriminalisieren, nähren Rassismus und Missverständnisse – und verhindern Begegnungen. Politisiert wird er u. a. durch die Proteste gegen den G8-Gipfel 2007. 2010 hilft er, ein transnationales Netzwerk für Bewegungsfreiheit aufzubauen; sein Theaterprojekt „Hurria!“ macht Fluchtursachen und Freiheitsrechte sichtbar.

U2 – Afghanistan → Deutschland

Amil startet im Westen Afghanistans mit einem kleinen Vorschuss. Zu Fuß in den Iran, weiter per Bus in den Westen; 18 Stunden im Laderaum, dann zu Fuß über winterliche Berge in die Türkei, unter Beschuss, mit Verletzten und Vermissten. In Istanbul folgen mehrere Versuche: Landweg nach Bulgarien scheitert an Polizei und Haft; Seeweg nach Griechenland endet unter Beschuss und Rettung aus dem Wasser. Nach sechs Anläufen gelingt der Grenzübertritt nach Bulgarien. Ein Schlepper lässt die Gruppe später im Wald allein; vier Tage überleben sie von Pfützen und Blättern, schlagen sich bis Sofia, Serbien, Ungarn durch. In Budapest entgehen sie nach Angriffen durch Hooligans weiteren Gefahren. Schließlich bringen Busse Amil nach Österreich, weiter nach München und Berlin – ohne Übersetzung strandet er zunächst am Hauptbahnhof, findet dann den Weg zur Unterkunft. Vom Aufbruch bis Berlin vergehen rund sieben Monate.

U3 – Eritrea → Deutschland

Mohammeds Dorfgemeinschaft schickt ihn, um in Europa Geld zu verdienen. Über Sudan und Libyen erreicht er mit einem Fischerboot Italien. In Rom nehmen ihn deutsche Unterstützer im Auto mit und fahren ihn über den Brenner nach München. Seine Geschichte zeigt, wie stark solidarische Netzwerke einzelne Wege verändern können.

U4 – Somalia → Wien

Abdi erlebt früh tödliche Gewalt im Umfeld von Clan-Konflikten. Nach Flucht über Äthiopien organisieren Schlepper die Route über Sudan und Tschad nach Libyen. Frauen in der Gruppe werden misshandelt; ein Freund stirbt auf der Strecke. Nach Haft in Tripolis ermöglicht ein religiöser Würdenträger die Freilassung. Für die Überfahrt von Zuwara nach Italien zahlen sie, warten Wochen und werden schließlich von der Küstenwache aufgenommen – begleitet von Popmusik an Deck. Über Neapel erreicht Abdi Wien und wird nach Traiskirchen verwiesen.

U5 – Afghanistan → Deutschland

Safi arbeitet als Dolmetscher für das US-Militär und gerät ins Visier der Taliban. Mit falschem Ausweis fliegt er nach Istanbul, wird festgesetzt und
lernt im Gefängnis die Schleuser kennen. Für 1.500 US-Dollar folgt die Bootsfahrt nach Griechenland; erst der vierte Versuch klappt, wieder Haft. Ziel ist Deutschland. Für 4.300 Euro geht es per Auto und Fähre Richtung Italien – 13 Stunden eingequetscht unter einer Rückbank. Von dort per Zug nach Hamburg: Er erlebt zum ersten Mal, dass ihm Polizei zuhört. Weiterleitung nach Bayern; heute lebt er im Raum München.

U6 – Syrien → Deutschland

Ghaith wird kurz vor dem Abitur in Damaskus festgenommen, weil er friedliche Proteste organisiert. Nach Flucht über das Mittelmeer kommt er im August 2014 in Berlin an. Bürokratie und fehlende Kurse bremsen zunächst; mit Aufenthaltstitel beginnt er Deutsch zu lernen, holt Schulabschlüsse nach und sucht Arbeit. Er hilft anderen Neuankommenden als ehrenamtlicher Übersetzer und Begleiter bei Behörden. Sein Ziel: Sprache festigen, Kontakte aufbauen, später studieren.

U7 – Jordanien → Deutschland

Khalid wechselt aus Sicherheitsgründen Identitäten und Stationen. Von Jordanien über Syrien nach Russland, weiter über Moskau, Ukraine, Slowakei nach Wien – zu Fuß, per Auto, per Flug. Vor jeder Grenze Ausstieg, Flucht vor Kontrollen. Schließlich gelangt er nach Deutschland, wo sein Asylverfahren läuft.
Dauer der Reise: rund 64 Tage.

U8 – Afghanistan → (EU-Grenze) → Afghanistan

Nabil lehnt die Rolle als Drogenkurier für die Taliban ab und flieht mit 16. Über Usbekistan, Kasachstan und Russland erreicht er die Ukraine. Durch Wälder versucht er, in den Schengenraum zu gelangen, wird in der Slowakei aufgegriffen und in die Ukraine zurückgebracht. Im Abschiebezentrum fehlen Verfahrenstransparenz und Rechte; Gebühren fallen informell an. Als Minderjähriger darf er nicht bleiben – er wird schließlich nach Afghanistan abgeschoben.

U9 – Ghana → Italien → Ghana

Felix will ein besseres Leben in Europa. Auf der Île Boulay lernt er von Gescheiterten, wie man als blinder Passagier auf Frachter gelangt. Er versteckt sich auf einem Schiff nach Genua, wird entdeckt und über Rom nach Accra zurückgeschickt. Er versucht es erneut – scheitert in Dakar. Ein dritter Versuch führt ihn sogar nach Südafrika; wieder Rückflug nach Ghana.
Seine Odyssee endet vorerst ohne Einreise nach Europa.

U10 – Syrien → Deutschland

Mutaz will dem Militärdienst entgehen. Über Jordanien, Libanon (Flug nach Algerien), Tunesien und Libyen erreicht er die Küste bei Zuwara. Für die Überfahrt zahlt er 2.000 Euro. Der Kutter gerät in Not; beim Rettungsversuch kippt das überfüllte Boot – mehr als hundert Menschen sterben, darunter ein Freund. Nach Sizilien kommt er in ein Erstaufnahmezentrum, reist dann weiter nach Deutschland, wo er in einem Heim bei Münster unterkommt und betriebswirtschaftliche Studienpläne fasst.

U11 – Syrien → Deutschland

Sadik studiert Mechatronik in Latakia, soll zur Armee. Mit seinem Bruder flieht er in die Türkei und zahlt 5.000 Dollar für die Passage nach Italien. Auf See werden sie gerettet und nach Kalabrien gebracht. In Bari werden sie unter Druck gesetzt, Fingerabdrücke abzugeben. Über Mailand scheitert zunächst der Grenzübertritt in die Schweiz. Schließlich gelingt die Zugfahrt via Trient und Innsbruck nach Deutschland, wo die beiden Asyl beantragen. Kurz darauf erreicht sie die Nachricht: In Syrien wurde die Familie von der Polizei abgeholt.

U12 – Eritrea → Deutschland

Der Lehrer Gebrael, seine schwangere Frau Selam und Cousine Merahawit arbeiten ein Jahr im Sudan, um rund 10.000 US-Dollar für die Flucht zu sparen. In Libyen werden sie inhaftiert und kaufen sich frei. Nach dreitägiger Bootsfahrt erreichen sie Sizilien, erhalten Kleidung und Hilfe, reisen über Turin nach Mailand und mit dem EC Richtung München. In Rosenheim werden sie registriert; anschließend geht es über München und Dortmund nach Münster,
wo Familie wartet.

U13 – Nigeria/Niger → Libyen → Italien (geplant)

Kosy, Lawrence und Pius wählen die sogenannte „Boga-Linie“: ein Konvoi aus Pick-ups bringt sie für je 800 Euro von Agadez nach Tripolis, begleitet von Soldaten gegen Gebühr. Tripolis ist Durchgangsort – viele schuften dort, bis das Geld für die Überfahrt reicht. Jugendgangs setzen Migrantinnen und Migranten zusätzlich unter Druck. Ein Boot mit Bekannten ist kürzlich gesunken, nur wenige überleben. Trotz der Gefahr sehen sie keine Alternative und warten auf die Passage nach Europa.

U14 – Syrien → Deutschland

Tom lernt Nabil 2011 in Homs kennen. Jahre später bittet Nabil um Hilfe für ein Visum. Nach intensiver Suche findet Tom ein Krankenhaus, das Nabils Hospitation bestätigt – die Grundlage für ein zeitlich befristetes Visum über Beirut. Kurz vor Abreise bricht der Kontakt ab: Nabil wird festgenommen, später freigelassen; auch seine Partnerin Mariam war in Haft. Schließlich erreichen beide den Flug nach Deutschland und treffen in Frankfurt auf Tom – der Plan hat trotz Rückschlägen getragen.

U15/U16 – Syrien → Griechenland/Schweden (über Ägypten/Türkei)

Amar aus Homs widersetzt sich dem Regime, flieht mit Familie nach Kairo und handelt mit Möbeln. Die politische Lage kippt, Visapflichten erschweren das Leben – die Familie beschließt die Flucht. Amar soll vorgehen. In Alexandria warten die Menschen in Wohnungen der Schleuser auf das „Go“. Eine konkurrierende Bande entführt die Gruppe, um Revierstreitigkeiten auszutragen; erst nach Lösegeld kommen sie frei. Am Strand scheitert die Abfahrt, Amar wird festgenommen und nach kurzer Haft in die Türkei abgeschoben.

Asus, ein syrischer Maurer, versucht parallel die Route über Izmir und die Ägäis. Mehrere Versuche enden mit Festnahmen durch die Küstenwache. Später gelingt ihm die Überfahrt nach Sizilien, von dort die Weiterreise zu seiner Verlobten nach Schweden.

U17 – Eritrea → Lampedusa

Jawaher flieht mit 14 mit ihrer Mutter vor der Wehrpflicht. Nach Jahren im Sudan und als Hausangestellte in Saudi-Arabien soll es nach Europa gehen. Ein Onkel organisiert den Weg nach Libyen; an der Küste bei Zuwara warten sie eine Woche auf die Ausreise. Als das Boot ablegt, fallen Schüsse. Jawaher versteckt sich, verliert ihre Mutter und wird später von Milizen aufgegriffen. Auf der Behörde zeigt man ihr das Foto der getöteten Mutter – ein drastischer Bruch in einer ohnehin riskanten Flucht.

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