
Ein Tag Ruhe, ein Tag Tränengas
In Venezuela wüten seit Anfang April blutige Proteste. Die Demonstranten gehen gegen Präsident Maduro auf die Straße – nicht nur für die Demokratie, sondern auch für ihr Leben. Mit der Journalistin Maria Lopes sprachen wir über die Extremsituation im Land mit dem weltweit größten Erdölvorkommen.
Seitdem Nicolás Maduro das sozialistische Erbe des 2013 verstorbenen Hugo Chávez übernommen hat, geht es wirtschaftlich und politisch bergab: Die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit stieg kontinuierlich und führte Anfang April zu blutigen Protesten, die noch immer andauern. Bisher sind 51 Menschen im Rahmen der Demonstrationen umgekommen (Stand: 26.05.2017).
Was bedeutet es, seinen Alltag in dieser Extremsituation zu meistern? Mit dieser Frage machte ich mich im Internet auf die Suche nach einem Ansprechpartner. Per Skype erreichte ich dann die 26-jährige Journalistin Maria Lopes (Name geändert), die regelmäßig von den Protesten in der venezolanischen Hauptstadt Caracas berichtet:
“Als Dokumentarfilm-Regisseurin verdiene ich den doppelten Mindestlohn. Trotzdem kann ich es mir nicht leisten, bei meiner Mutter auszuziehen. Zusammen mit den staatlichen Zuschüssen habe ich 180.000 Bolívares monatlich zur Verfügung. Um sich mit dem Nötigsten versorgen zu können, benötigt man jedoch 700.000 Bolívares im Monat.”
Die venezolanische Währung bricht immer mehr zusammen. Für dieses Jahr erwartet IWF eine Inflationsrate von über 700 Prozent – bereits eine Rate von 5 Prozent gilt als schwere Inflation. Das liegt vor allem daran, dass die Ölförderung 90 Prozent von Venezuelas Exporten ausmacht und die meisten Güter importiert werden müssen. Durch den Fall des Erdölpreises ist dies jedoch kaum mehr möglich. Die Folgen sind leere Regale im Supermarkt, Medikamentenmangel und ein florierender Schwarzmarkt, auf dem Produkte zu horrenden Preisen angeboten werden.
“Wenn ich morgens das Haus verlasse, um zur Arbeit zu fahren, sehe ich als erstes eine ewig lange Menschenschlange vor dem Supermarkt. Um an preiswerte Lebensmittel zu kommen, müssen sie eine Nummer ziehen und stehen dafür bis 23 Uhr an. Mit dieser Nummer stellen sie sich erneut am nächsten Tag ab 4 Uhr morgens an, um dann eine rationierte Portion von den Produkten zu kaufen, die es zu diesem Zeitpunkt gerade gibt. Doch viele Menschen können sich nicht einmal mehr das leisten.
Viele Menschen müssen aus Mülltonnen essen
Vom Haus meiner Mutter brauche ich mit dem Auto 45 Minuten zu meiner Arbeit im Stadtzentrum. Auf diesem Weg sehe ich viele Menschen, die teilweise immense Strecken zu Fuß in die besseren Wohngebiete zurücklegen, um aus den Mülltonnen der Mittelklasse zu essen. Der bildliche Ausdruck ‚von der Hand in den Mund zu leben’ war noch nie so real.
Letztens sah ich Mütter mit ihren Kindern auf dem Arm in einer Schlange stehen. Die Kinder hatten statt Windeln Plastiktüten mit einer Kordel umgebunden, in die sie Servietten gelegt hatten. Ich spreche hier nicht von einem abgelegenen oder ärmlichen Stadtteil, sondern vom Zentrum Caracas’: einem Viertel voller Büros und Restaurants in der Hauptstadt des Landes mit dem größten Erdölvorkommen der Welt.”
Seit 2014 hat sich der Preis des Erdöls jedoch halbiert. Hinzu kommen die veraltete Technik in der Ölförderung und die starke Abhängigkeit der Wirtschaft von diesem einen Produkt. Neben der Lebensmittelknappheit und der Währungsinflation schnellt auch die Arbeitslosenquote in die Höhe. Man rechnet damit, dass sie noch dieses Jahr die 25-Prozent-Marke überschreitet.
Zu diesen wirtschaftlichen Engpässen kommen politische Probleme. Am 29. März dieses Jahres entzog das regierungskonforme Oberste Gericht dem von der Opposition kontrollierten Parlament jegliche gesetzgeberische Kompetenz. Die Gewaltenteilung wurde aufgehoben, indem sich Maduros sozialistische Partei alle Berechtigungen unter den Nagel riss. Seitdem beherrschen heftige Proteste das Straßenbild. Der Beschluss wurde zwar drei Tage später zurückgezogen, doch die Demonstrationen waren bereits im Gange.
Venezuela leidet zwar schon länger unter der Regierung Maduros. Lebensmittel- und Medikamentenknappheit gibt es bereits seit 2014. Seit letztem Jahr betrifft sie aber alle gesellschaftlichen Schichten. Derzeit kommt es jeden zweiten Tag zu Demonstrationen – dazwischen immer ein Tag Pause, zum Ausruhen.
“In den Pause-Tagen bereite ich mich mit einem Kameramann auf die nächste Demonstration vor. Wenn ich dann die Redaktion als Medienschaffende verlasse, wird die Polizei zu meinem Feind. Auch für alle anderen Menschen stellt sie nicht den Freund und Helfer dar, doch als Journalistin sollte man besonders darauf achten, ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken.”
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen befindet sich Venezuela auf Platz 137 von 180. Als Grund für die schlechte Platzierung wird unter anderem angegeben, dass Journalisten Bedrohungen und Hetzkampagnen verschiedener politischer Lager ausgesetzt sind. Der nationalen Gewerkschaft von Medienschaffenden wurde in diesem Jahr bereits von über 200 Fällen berichtet, in denen die Pressefreiheit verletzt wurde. Allein im April wurden 130 Journalisten direkt angegriffen und 18 inhaftiert. Wir entschieden uns auch deshalb, Marias Klarnamen nicht zu veröffentlichen.
“Bei den Demonstration überfluten Menschen jeder Altersstufe die mehrspurigen Straßenzüge. Die große Mehrheit bilden jedoch junge Männer, und das nicht ohne Grund: Ihnen gegenüber stehen sehr gut ausgerüstete Polizisten und Militärs, die mit Tränengas schießen. Und zwar nicht nur in die Luft, sondern auch direkt auf die Menschen. Nicht nur auf die erste Reihe, sondern auch mitten auf die dicht an dicht gedrängten Massen. Und nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf deren Fluchtwege.
Ich habe viele Dinge gesehen, die ich lieber nicht gesehen hätte
Das Tränengas verursacht, dass man weder atmen noch sehen kann. Trotzdem bleiben die Demonstranten unheimlich ruhig. Damit keine Panik ausbricht, rufen einige immer wieder: ‚Fangt nicht an zu rennen, fangt nicht an zu rennen!’ Und das in einer Situation, in der sie selbst weder atmen noch sehen können.
Er war sofort tot, sein Herz ist einfach stehen geblieben.
Hinzu kommen die Schrotgeschosse. Polizei und Soldaten schießen sie aus weniger als 50 Metern Entfernung direkt auf die Menschen. Sie übersäen die Haut mit kleinen Löchern, trotzdem weichen die Demonstranten nicht zurück. Die Waffen, die hier benutzt werden, sind nicht zum Töten gemacht. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht mit ihnen töten kann, wenn man das möchte. Gestern haben sie eine Tränengasbombe aus einem Meter Entfernung auf einen 20-jährigen Studenten abgefeuert. Er war sofort tot, sein Herz ist einfach stehen geblieben. Ich habe in der letzten Zeit viele Dinge gesehen, die ich am liebsten niemals gesehen hätte.
Umso mehr beeindruckt mich die Solidarität zwischen den Demonstranten. Sie haben ein richtiges System entwickelt: Die hinteren lösen die vorderen Reihen, die mehr Gas einatmen, ab und lassen sie nach hinten rotieren. Die oberste Priorität liegt darin, die Verletzten in Sicherheit zu bringen. Das Problem ist, selbst wenn dir die Anderen helfen ins Krankenhaus zu kommen, erwarten dich dort nichts als leere Regale. Es gibt keine Medikamente mehr, nicht einmal Antibiotika oder Säurehemmer gegen das Tränengas. Wir sind an dem Punkt, an dem sich die Gründe, warum wir protestieren, mit den Folgen der Proteste vermischen. Das Ergebnis ist hart zu ertragen.”
Video: Marias Aufruf zur nächsten Demonstration
Aufgrund der aktuellen Geschehnisse bezeichnete der Vorsitzende der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, die venezolanische Regierung als Diktatur. Einige Mitgliedstaaten um Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay unterschrieben eine Stellungnahme, in der sie Maduros Regierung unter anderem aufforderten, „das Recht auf friedliche Demonstrationen zu gewährleisten“. Wegen der Kritik warf Maduro dem Länderbund vor, sich in innenpolitische Angelegenheiten einzumischen. Ende April trat Venezuela schließlich aus der OAS aus.
“Wenn ich nach den Demonstrationen nach Hause komme, wird die Wohnung meiner Mutter zu meinem Gefängnis. Denn die Kriminalität ist so hoch, dass man das Haus unter keinen Umständen nach Einbruch der Dunkelheit verlassen kann. Ich kenne niemanden, der noch nicht überfallen wurde, mindestens vier meiner engen Freunde wurden bereits entführt.”
Die Situation in Venezuela veranlasst viele Einwohner zur Flucht. Nach Angaben des brasilianischen Justizministeriums haben 8.231 Venezolaner von Beginn des Jahres bis einschließlich der ersten Maiwoche Asyl beantragt. 2016 waren es im kompletten Jahr nur 3.375 Anträge aus Venezuela. Und Brasilien ist bei Weitem nicht das einzige Land, das Menschen aus Venezuela aufnimmt.
Ich gehe zu mehr Abschiedspartys als zu Geburtstagen
“Der Großteil meiner Familie hat es hier nicht mehr ausgehalten und das Land bereits verlassen. Meine Schwester geht jetzt noch im Mai, dann sind meine Mutter und ich die einzigen, die noch hier sind. Von meinen Freunden sind sowieso nicht mehr viele übrig. Ich gehe zu mehr Abschiedspartys als zu Geburtstagen. Inzwischen befreunde ich mich einfach mit den Menschen, die noch übrig sind. So schlimm diese Flucht der Intellektuellen auch ist, wenigstens bilden sie ein Sprachrohr für die Hiergebliebenen, sodass die internationale Gesellschaft auf unsere Situation aufmerksam wird. Meine Verwandten schicken uns auch Sachen aus dem Ausland, die man hier nicht mehr kaufen kann. Ansonsten versorgen wir uns über den Schwarzmarkt. Das ist natürlich viel teurer und viele Dinge gibt es auch dort nicht mehr. Damenbinden zum Beispiel, einmal im Monat habe ich also ein echtes Problem. Den meisten Menschen in Venezuela geht es sehr viel schlechter als mir, die meisten leiden Hunger.
Ich weiß nicht, wie lange das noch gut gehen wird, denn die Leute sehen, dass sie nicht allein sind, dass Tausende mit ihnen demonstrieren. Sie fangen an davon zu träumen, Maduro zu stürzen. Doch unsere Regierung sitzt auf einer riesigen Erdölquelle, kann also – selbst wenn das ganze Land keine Steuern zahlt – ohne Probleme weiter bestehen. Und außerdem pflegt Maduro einen starken Draht zum Militär. Die Regierung stellt den Soldaten Wohnungen und versorgt sie mit Essen – Dinge, die dem Rest der Bevölkerung nicht zur Verfügung stehen.”
Maria berichtet als Journalistin darüber, wie Venezolaner mit Steinen gegen ein ideologisiertes, bewaffnetes Militär kämpfen. Wie sie nicht nur für die Demokratie, sondern um ihr Leben kämpfen. Die Lage hat sich nicht verbessert, sie verschlechtert sich täglich. Was wünscht man sich in solchen Zeiten?
“Für die Zukunft wünsche ich mir eine Regierung, die es mir ermöglicht zu essen. Die es mir ermöglicht, davon zu träumen, mal ein eigenes Apartment zu haben und meiner Mutter nicht mehr zur Last zu fallen. Ob sich diese Regierung sozialistisch, konservativ oder liberal nennt, ist mir egal. Ich habe gelernt, dass all ihre Worte nichts als Poesie sind.
Unser eigentliches Problem in Venezuela ist, dass wir uns in der Politik immer in einen charismatischen Mann verlieben, der uns eine schöne Welt verspricht, anstatt auf Institutionen zu bauen. Wenn er dann an die Macht und somit an Geld kommt, setzt er seine Versprechen zunächst mehr oder weniger um und wird dann korrupt. Und dann gibt es keine Institutionen, die sein Verhalten kontrollieren können. Unser Leben ist also immer wieder von einer Person abhängig, woanders nennt man das eine Diktatur.”
Redaktion: August Modersohn