
Wir wollen keine Telefone sein
Unsere Autorin Lisa Bendiek führt drei Liebesbeziehungen auf einmal. Dafür braucht sie viel Zeit und ein dickes Fell gegen Vorurteile. Denn Polyamorie, die gleichzeitige Liebe zu mehreren Menschen, ist ein heikles Unterfangen für alle Beteiligten – und führt oft zu Missverständnissen.
Am Fuß der Mainzer Bahnhofstreppe wartet Esther auf mich. Ich habe sie einen Monat lang nicht mehr gesehen, nehme drei Stufen auf einmal. Sie fällt mir um den Hals, drückt mich fest an sich. “Gut, dass du da bist”, sagt sie. “Ja”, sage ich, “ich hab dich vermisst.” Ein Monat ist eine lange Zeit für mich, wenn ich verliebt bin. Ich bin ständig verliebt. Meistens in mehrere Menschen gleichzeitig. Momentan sind es drei, und Esther ist einer davon.
Das erste Mal begegnet sind wir uns 2006, auf einer Sommerakademie der Grünen Jugend – damals war ich 16 und hielt Feminismus noch für ein Schimpfwort. Esther erinnert sich noch, dass ich in den Kaffeepausen Räder schlug. Fünf Jahre später fand ich heraus, dass wir beide die Angewohnheit haben, die weißen Papierlampen von IKEA mit Wasserfarben bunt anzumalen. Als ich schließlich mit Esther zusammenkam, gab es auch schon John und Notker.
John und ich kennen uns seit zwei Jahren. Wenn ich morgens aus dem Bad in sein Zimmer zurückkomme, liegt er mit seinem Handy im Bett und liest Twitter. Besonders spannende Tweets kann er noch Stunden später auswendig zitieren. Im Gegenzug lernte John von mir, dass Ketchup vegan ist und Pesto meistens nicht. Vor ungefähr einem Jahr stellten wir fest, dass unsere unverbindliche Affäre zu einer Liebesbeziehung geworden war.
Notker begeistert sich für Landwirtschaft. Seitdem ich mit ihm zusammen bin, kann ich Holstein-Kühe von Fleckvieh unterscheiden. Inzwischen dauert unsere Beziehung schon zweieinhalb Jahre. Das überrascht uns beide. Denn in der ersten Nacht, die wir miteinander verbrachten, warnte er mich, er wolle auf keinen Fall eine Beziehung: “Da gilt man immer gleich als besetzt, wie so’n Telefon.” Notker wollte sich nicht von mir besetzen lassen, wollte nicht, dass ich irgendeinen Anspruch auf ihn erhebe. Deshalb war er erleichtert, als ich ihm von meinem damaligen Freund erzählte.
Unsere Gefühle funktionieren nach anderen Regeln als die Akkus unserer Handys.
Esther, John, Notker und ich, wir wollen keine Telefone sein. Wir glauben an Polyamorie. Dieses Wort setzt sich zusammen aus dem griechischen “poly” – “viele” und dem lateinischen “amor” – “Liebe” und meint Liebesbeziehungen mit mehr als einer Person. Wir wissen, dass Liebe und Begehren – im Gegensatz zu Kohle, Erdöl und Uran – keine begrenzten Ressourcen sind. Unsere Gefühle funktionieren nach anderen Regeln als die Akkus unserer Handys. Deshalb können wir mehrere Menschen gleichzeitig lieben und auch Sex mit ihnen haben.
Damit es dabei allen gut geht, streben wir nach maximaler Ehrlichkeit. Bevor ich mich auf einen neuen Menschen einlasse, erzähle ich von meinen aktuellen Beziehungen. Als Esther und ich uns das erste Mal küssten, waren John und Notker dabei.
Seit Esthers Exfreundin nach Schottland ausgewandert ist, ist sie nur noch mit mir zusammen. Nach meiner Ankunft in Mainz steht sie in der WG-Küche am Herd und brät Kartoffelpuffer. Ich stelle mich hinter sie und lege meinen Kopf auf ihre Schulter. “Würdest du es schaffen”, frage ich, “mit jemand anderem – zusätzlich zu mir – noch eine Beziehung in derselben Intensität zu führen?” Wie aus der Pistole geschossen antwortet sie: “Emotional gesehen locker – zeitlich gesehen auf gar keinen Fall!”
Zeit ist, im Gegensatz zu Liebe und Begehren, eine begrenzte Ressource. Um meine drei Liebsten regelmäßig zu sehen, wende ich viel davon auf und fahre oft von Hamburg nach Göttingen, Mainz und Berlin. Meinen Terminkalender stimme ich auf drei andere ab. John, der in Göttingen wohnt, kommt mich regelmäßig besuchen und reist genauso regelmäßig nach Berlin, wo er eine seiner anderen Freundinnen trifft. Notker, der dort lebt, ist momentan voll ausgelastet mit seinem Studienabschluss, seinem Teilzeitjob im Bundestag, seinem politischen Engagement und unserer Beziehung – für andere bleibt da keine Zeit.
Vergeblich warte ich auf Anzeichen der Eifersucht
Als ich erstmals John und Notker gleichzeitig traf, war ich aufgeregt. Sie saßen gerade in Notkers WG am Abendbrottisch, als ich den Raum betrat. Ich umarmte beide und setzte mich in die Mitte. Dann unterhielten sie sich weiter über die Rechtsverstöße der Polizei beim letzten Castor-Transport. Ich beobachtete sie und wartete auf erste Anzeichen der Eifersucht. Doch ich konnte keine entdecken. Die Nacht verbrachte ich in Notkers Bett und John auf der Wohnzimmercouch. Zwei konfliktfreie Tage und Nächte später waren wir alle begeistert davon, wie leicht es uns fällt, Zeit zu dritt zu verbringen. Mittlerweile sind Notker, John, Esther und ich auch daran gewöhnt, uns zu viert zu begegnen.
In Mainz ist es jetzt Abend. Esther und ich sitzen auf wackligen Plastikstühlen im Garten eines besetzten Hauses und teilen uns eine vegane Piña Colada. Ein paar Meter weiter prasselt das Lagerfeuer, ein Punk mit lila Haaren spielt Gitarre. “Ihr seid so süß zusammen”, sagt Daniela, eine Freundin von Esther. “Man könnte glatt denken, ihr führt eine monogame Beziehung.” Seit Daniela mich kennt, hat sie sich der Mission verschrieben, Esther und mich zur Monogamie zu bekehren. Die Beziehung zwischen Esther und mir sprengt ihr Weltbild. In der Liebe, meint Daniela, gibt es nur einen einzigen Menschen, der wirklich zu dir passt, der dich glücklich machen kann. “Wenn du diesen Menschen gefunden hast, warum willst du dann noch andere? Ihr reicht euch doch gegenseitig aus!”
Esther verschluckt sich an ihrer Piña Colada. Als sie fertig gehustet hat, protestiert sie: “Ich bin nicht auf der Suche nach dem einen Menschen, der mich aus meiner Misere rettet. Dieses Bild von romantischer Liebe ist eine Illusion, die ich absolut nicht erstrebenswert finde.” Esther hat noch nie eine monogame Beziehung geführt und verspürt auch keinerlei Bedürfnis danach. “Für mich”, erklärt sie, “ist es wichtig zu wissen, dass meine Freundin noch jemand anderen hat oder haben könnte. Ich habe dadurch immer das Gefühl, Nein sagen zu können. Ich könnte gehen, ohne jemanden alleine zu lassen. Das macht mich frei.” Diese Freiheit ermöglicht es ihr, anderen wirklich nahe zu kommen, ohne sich eingeengt zu fühlen. Umgekehrt will sie auch niemandem die Last aufbürden, all ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Daniela hingegen trauert seit Jahren einer Frau hinterher, von der sie ewiges Glück erwartet hat, die aber jetzt nichts mehr von ihr wissen will. Esther und Daniela sind beide überzeugt davon, dass das Konzept der jeweils anderen unglücklich macht.
Keine Utopie ohne persönliche Beziehung
Die Absprachen zwischen Esther, Notker, John und mir beinhalten, dass wir alle mit anderen Menschen schlafen, uns verlieben und neue Dauerbeziehungen eingehen dürfen. Eine generelle Berichtspflicht haben wir nicht vereinbart, trotzdem sprechen wir oft miteinander über die Menschen, die uns gerade faszinieren. Ich freue mich für Esther, wenn sie eine Nacht mit einer anderen verbringt. Notker hört neugierig zu, wenn ich ihm von John erzähle. Unter Polyamorie-Fans gibt es für dieses Gefühl ein eigenes Wort: Resonanzfreude. Notker ist mittlerweile der Ansicht, die Vorliebe für Poly-Beziehungen sei eine sexuelle Orientierung wie Heterosexualität. Der Unterschied ist nur, dass Polyamorie nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Wer polyamor lebt, ist gezwungen, sich immer wieder als “unnormal” zu outen oder den eigenen Lebensstil zu verleugnen. Damit geht es polyamoren Menschen genauso wie allen, die nicht heterosexuell sind.
Esther wird manchmal gefragt, ob sie einen Freund hat. Meistens antwortet sie ehrlich und sagt, sie führe eine offene Beziehung mit einer Frau. So packt sie zwei Abweichungen von der Norm in einen Satz. Nicht immer läuft das glatt: “Eine polyamore Lesbe wie ich ist vielen komplett fremd. Und Frauen, die mit vielen Frauen schlafen, begegnen einem sonst nur in Pornos. Manche Männer denken dann an nichts anderes mehr als an dieses absurde Porno-Frauenbild.”
Du bist doch nicht monogam. Heißt das, du schläfst mit jedem?
Auch ich habe einen Anbaggerversuch erlebt, der in diese Kerbe schlug. Nach einigen Bier in der Kneipe lehnte sich ein Bekannter zu mir herüber und raunte: “Hey, du bist doch nicht monogam. Heißt das eigentlich, du schläfst mit jedem?”
Immer wieder verwechseln Menschen Polyamorie mit Promiskuität. Nicht, dass an letzterer – also Sex mit vielen verschiedenen Menschen – etwas auszusetzen wäre, aber sie hat mit Polyamorie so viel zu tun wie Swinger-Clubs mit Monogamie. Polyamorie schließt Promiskuität nicht aus, aber auch nicht immer ein. Und keins von beiden Konzepten verpflichtet uns dazu, mit einem dahergelaufenen Idioten – wie dem oben zitierten – ins Bett zu hüpfen.
Ich finde es absurd, einem anderen Menschen ein Recht auf meinen Körper einzuräumen. Und Notker kann sich nicht vorstellen, sein Beziehungsdenken einer monogamen “Traumfrau” zuliebe aufzugeben. “Dann müsste ich ja dich für sie verlassen!”, sagt er entsetzt. “Außerdem muss man sich die Frage umgekehrt stellen. Wenn ich mit dieser Frau keine Beziehung anfange, liegt das ja nicht nur daran, dass ich Polyamorie will. Sondern auch daran, dass ihr eine monogame Beziehung wichtiger ist als eine Beziehung mit mir.”
Am nächsten Morgen weckt mich eine riesige Tasse Kaffee unter meiner Nase. Wie immer ist Esther aufgestanden, als ich noch im Halbschlaf lag, um ihre Lieblingsdroge zuzubereiten. Sie zieht die Vorhänge zurück, das Morgenlicht flutet ins Zimmer. Zwischen zwei Schlücken stelle ich eine bedeutungsvolle Frage: “Glaubst du, Polyamorie ist eine Möglichkeit, die Welt besser zu machen?”
Spirituelle Vervollkommnung und Kapitalismuskritik
Esther nimmt mir die Tasse aus der Hand, klaut mir einen Schluck und denkt nach. “Monogamie”, sagt sie dann, “ist einer der vielen Wege, wie Menschen sich selbst und andere versklaven, ohne es zu merken. Wenn Monogamie nicht mehr alternativlos wäre, wenn auch andere Beziehungsformen als normal gelten würden, wären viele Menschen freier.”
Ich klaue mir die Kaffeetasse zurück. “Freier schon, das glaube ich auch”, sage ich. “Aber meinst du, das macht sie glücklicher?” “Kommt drauf an”, sagt Esther. “Je nachdem, wie sie mit der Freiheit umgehen.” In der Poly-Community gibt es viele, die ihr Beziehungskonzept als Weg der Erlösung präsentieren. Als Strategie, die langjährige Ehe zu retten und sich trotzdem endlich wieder verlieben zu können, oder als Möglichkeit, spirituelle Vervollkommnung zu erlangen. Wieder andere nutzen Polyamorie, um ihre Kritik an kapitalistischen Besitzverhältnissen und Institutionen wie der monogamen Hetero-Ehe in die Tat umzusetzen.
“Ich bin nicht polyamor, weil ich die Welt besser machen will”, sagt John. “Ich bin polyamor, weil mir das eben besser gefällt.” Er denkt noch eine Weile nach und fügt hinzu: “Trotzdem würde ich sagen, dass Polyamorie politisch ist. Weil es allein dadurch, dass man es macht, Normen in Frage stellt. Es ist wie eine Demonstration, nur umgekehrt.” Demonstrieren geht John aus politischen Gründen, Spaß ist dabei ein angenehmer Nebeneffekt. Polyamorie hingegen betreibt er aus persönlichen Bedürfnissen heraus, aber auch damit erzwingt er gesellschaftlichen Wandel.
Die Revolution, sofern man an sie glaubt, findet sicher nicht nur im eigenen Bett statt, auch nicht nur im Kopf oder im Herzen. Glückliche Liebe mit vielen hilft nicht gegen Klimawandel, Welthunger, Rassismus und Sexismus. Aber ganz ohne den Blick auf die persönlichen Beziehungen kommt meine Utopie auch nicht aus.
Esther bringt mich zum Mainzer Bahnhof. Wie immer bin ich wehmütig, als wir uns verabschieden. Ich weiß, dass ich sie bald wieder stark vermissen werde. Andererseits freue ich mich auf die nächsten Tage bei John in Göttingen. Esther nimmt mich in den Arm, gibt mir einen Kuss auf die Nase und sagt: “Grüß John von mir.”