
Wir sind Feinde, aber wir müssen reden
Yaël verlor ihren Mann bei einem Selbstmordanschlag. Acht Jahre später besucht sie die Familie des Attentäters – nicht etwa, um sie zur Rede zu stellen. Yaël sucht Verständigung. Ein Interview zum Film "Nach der Stille"
Zakarias Sohn hat sich an diesem Tag zur Arbeit verabschiedet, nachmittags haben die Tobassis es dann in den Nachrichten gehört.
Shadi Tobassi betritt am 31. März 2002 ein Restaurant im israelischen Haifa und zündet seinen Sprengstoffgürtel. Er reißt 15 Menschen mit in den Tod, darunter Dov Chernobroda, einen israelischen Friedensaktivisten. Seine Witwe Yaël will seine Botschaft weitertragen und entschließt sich acht Jahre später die Familie des Attentäters zu besuchen. Auf diesem aufwühlenden Weg begleiten sie Jule Ott und Stephanie Bürger. Die zwei Dokumentarfilmerinnen nehmen zwei Wochen nach ihrem Studien-Abschluss den Flieger nach Tel Aviv, um ihren ersten Film zu drehen: Nach der Stille. Für Yaël ist die Geschichte nach dem Dreh nicht vorbei, wie sie im Interview sagt. Sie will weiter Araber und Israelis dazu bringen, aufeinander zuzugehen. Auch Jule und Stephanie glauben, dass ihr Film Menschen zum Umdenken bewegen kann.
Jule, Stephanie, die ersten drei Monate eurer Arbeit habt ihr in Jenin im Westjordanland verbracht, wo die Familie des Attentäters Shadi Tobassi wohnt. Musstet ihr so lange Vertrauen aufbauen?
Jule: Unser großes Glück war die lange Zeit, die wir hatten. So konnten wir uns der Familie Tobassi langsam annähern – mit Hilfe von Fakhri, unserem Produzenten, und Manal, unserer Co-Regisseurin, die für uns die Sprachbarriere überwunden hat. Die Familie Tobassi wusste zu Beginn auch nichts von Yaël, das kam erst Schritt für Schritt.
Die Tobassis wussten nicht, dass Yaël sie treffen will?
Jule: Nein, anfangs nicht. Das war für uns ein ganz spannender Moment: den Vater Tobassi, Zakaria, zu fragen, was er davon hält, dass Yaël kommt. Da wurde klar, ob das Treffen steht oder fällt. Aber er hat sofort gesagt: Wenn sie zu Frieden bereit ist, dann bin ich das auch. Sie ist bei uns willkommen. Das war uns eine riesige Erleichterung.
Yaël Chernobroda und Zakaria Tobassi in Jenin im Westjordanland
Ihr habt Zakaria auch gefragt, ob er etwas vom Plan seines Sohnes geahnt hat. War das ein Rückschlag?
Stephanie: Ich weiß nicht, ob die Frage ein Rückschlag war. Doch es war eine wichtige, aber auch gefährliche Frage, denn wenn sie was geahnt hätten, müssten sie mit Konsequenzen rechnen. Der Vater hat uns aber geantwortet: Sein Sohn hat sich an diesem Tag zur Arbeit verabschiedet, wie sonst auch, nachmittags haben sie es dann in den Nachrichten gehört. Wir haben ihm das absolut geglaubt.
Jule: Und so, wie die Familie immer noch unter Schock steht, sind wir uns sicher: Die haben das nicht gewusst.
Ihr seid direkt von der Uni nach Israel gefahren, kanntet weder die arabische Kultur noch die Sprache. Wie schnell und einfach konntet ihr einsteigen?
Stephanie: Einfach war es nicht, aber schnell. Weil wir nicht ohne Bezugspunkt in die Stadt gekommen sind. Es gibt dort das Cinema Jenin, welches der deutsche Regisseur Marcus Vetter, unser Dozent an der Uni, mit aufbaut, und viele in der Stadt arbeiten mit. Mit Hilfe der Volontäre konnten wir recht schnell in der Stadt Fuß fassen, über drei Ecken haben wir dann Kontakt zur Familie Tobassi bekommen.
Gab es auch diesen Punkt: Yaël, jetzt kannst du sie anrufen?
Jule: Nein. Aber es kam der Punkt, wo wir gesagt haben: Wir fahren nach Haifa, dort gibt es eine Frau, die ihren Mann verloren hat. Wir haben ihm noch nicht gesagt, dass sich Yaël vielleicht bei ihm melden will. Wir waren Vermittler und wollten nichts vorwegnehmen. Aber Yaël wusste, dass sie nicht ins Schwarze fährt und wer am anderen Ende den Telefonhörer abnimmt.
Die Israelis sind nicht einfach so und die Palästinenser so, Opfer oder Täter.
Yaël: Jule und Steffi haben mich gefragt: Was wirst du sagen? Ich wusste es nicht. Nach dem Anruf habe ich angefangen zu weinen, ich konnte nicht aufhören, da haben Jule und Steffi die Kamera runtergenommen und mich getröstet. Sie waren nicht nur Regisseurinnen, sondern echte Freundinnen. Manche haben gefragt, ob das ein richtiger Anruf war, aber ich bin keine Schauspielerin.
Jule: Ich glaube, es hat viele Leute beeindruckt, dass Yaël und die Tobassis vor der Kamera so aufgegangen sind. Auch der Vater Zakaria, das Familienoberhaupt, weint, als er von seinem Sohn redet. Das Vertrauen liegt sicher auch daran, dass wir statt 19 Drehtagen 6 Monate hatten.
Am Anfang war noch die Frage nach dem Warum wichtig: Warum hat Shadi das getan? Diese Frage ist langsam verschwunden, oder?
Stephanie: Nein, sie ist nicht verschwunden, aber wir wollten mit dem Film keine Antwort darauf geben. Im Film haben wir eine stille Rolle. Wir sind nicht die, die Fragen stellen, sondern die, die ein Ohr bieten. Wir zeigen im Film auch etwas über die Geschichte der Stadt Jenin und die der Familie, die Angriffe, wir wollen aufzeigen, in welchem Klima dort Kinder groß werden. Aber wollen nicht sagen, dass einen dies und das zum Selbstmordattentäter macht.
Ja, das wäre anmaßend.
Yaël: Das ist auch wichtig für das Publikum – wenn Leute diesen Film sehen, bleiben sie mit Fragen – nicht mit Antworten. Sie lernen mit diesem Film, dass die Dinge nicht so einfach sind, etwa dass die Israelis so sind und die Palästinenser so, wer Opfer und wer Täter ist.
Zakaria Tobassi zieht sich die Schuhe aus, nachdem er von der Moschee nach Hause gekommen ist.
Was hing stattdessen dort?
Stephanie: Ein Auszug aus dem Koran.
Jule: Fakhri, unser Produzent, dachte als Kind, dass das hebräische Wort für “Soldat” Jude bedeutet. Es gibt keinen anderen Kontakt zum Nachbarvolk als über das Militär. Für ihn ist es irre, dass Leute kommen, die anders denken. Ich glaube, man kann mit so einem Film etwas verändern – mit einem Klima, in dem etwa bei den Jeninern etwas in den Köpfen entstehen kann. Der Konflikt ist sehr von Schlagzeilen geprägt, egal auf welcher Seite. Eine persönliche Geschichte ist anders.
Ich glaube, dass Naivität auch eine gute Sache ist.
Yaël: Man kann immer sagen, man sei naiv: Mein Mann tritt sein Leben lang für den Dialog ein und wird trotzdem von einem palästinensischen Attentäter in die Luft gesprengt. Aber ich glaube, dass Naivität auch eine gute Sache ist. Als ich mit Frau Tobassi durch Jenin gegangen bin, wollte ihre Enkelin meine Hand halten, aber sie hatte Angst. Sie hat ihren Vater angesehen und mit dem Blick gefragt: Darf ich? Er hat ihren Blick erwidert und “Ja” gesagt. Ich war gleich nicht mehr der Teufel. Sie war acht Jahre alt und hat auf einmal anders gedacht – oder gefühlt.

Das Wohnzimmer der Familie Tobassi. An der Wand über dem Sofa hängt ein postergroßes Foto ihres Sohnes Shadi.
Ihr musstet die Tobassis dazu überreden, vor dem Besuch die Bilder von Shadi im Wohnzimmer abzuhängen.
Jule: Nicht überreden, es war wie ein Vorschlag. Yaël hätte das erste Mal dem Mörder ihres Mannes ins Gesicht schauen müssen.
Stephanie: Als ich am Morgen des Treffens da war, hing es noch an der Wand. Ich bin mit dem Vater zur Moschee gelaufen, weil er vorher noch einmal beten wollte. Als wir wiederkommen sind, war das Bild ausgetauscht. Das war Frau Tobassi.
Yaël: Während der Mann gebetet hat?
Stephanie: Ja.
Yaël: Das wusste ich nicht.

Die Mutter von Shadi Tobassi, Nadije Tobassi, und Yaël Armanet-Chernobroda laufen durch Jenin.
Plötzlich war Shadi auf dem Bildschirm. Zakaria ist schnell zum nächsten Bild gegangen, und ich sagte: Nein, das ist Ihr Sohn.
Yaël: Eine stille, aber starke Geste. Als wir uns im Februar zur Berlinale getroffen haben, im Hotel, war das vielleicht noch wichtiger als das Treffen in Jenin. Zakaria hat mir auf seinem Handy alle Bilder seiner Familie gezeigt. Plötzlich war Shadi auf dem Bildschirm, er ist schnell zum nächsten Bild gegangen, und ich sagte: Nein, das ist Ihr Sohn. Er war erstaunt, ist wieder zurückgegangen und war ganz still. Am gleichen Tag habe ich ihn gefragt: Weißt du, dass dein Sohn am gleichen Tag geboren ist wie mein Mann, dem 8. März? Wir haben beide angefangen zu weinen. Diese Momente, dieser echte Blickkontakt zwischen uns, sind sehr wichtig.
Zakaria bezeichnet Sie als eine Freundin der Familie. Wie sieht euer Kontakt im Moment aus?
Stephanie: Yaël kommt schwer nach Palästina, die Tobassis haben ihren israelischen Pass nach dem Attentat verloren, es gibt bürokratische Probleme sich zu treffen. Deswegen war Berlin zur Berlinale, ein Treffen auf unabhängigem Boden, auch gut. Das ist natürlich absurd, weil Jenin und Haifa nur 40 Kilometer auseinander liegen.
Könnt ihr noch einmal vom Treffen in Jenin erzählen?

Stephanie Bürger, Yaël Armanet-Chernobroda und Jule Ott nach dem Interview
Yaël: Für mich war es wichtig, dass wir nicht nervös waren. Niemand war aggressiv oder hat jemandem Schuld gegeben. Dovs Sohn Yoav hat von seinem Vater erzählt, dass er gekämpft hat sein ganzes Leben. Mein Mann Dov hat gesagt: Wir sind Feinde, aber wir müssen miteinander sprechen. Niemand ist ein unbeschriebenes Blatt. Jeder hat Vorurteile, aber wichtig ist, zuzugeben: Ja, ich habe Vorurteile: Das weiß ich. Aber ich will lernen.