Ein Kuss weckt mich. Raiza (Name geändert) hat sich ein rotes Kleid übergeworfen und hält mir javanischen Kaffee unter die Nase. Ich habe Glück – Tinder hat mir eine großartige Nacht beschert.

„Du kannst gerne noch eine Woche bleiben!“, meint Raiza. Ich will, bin aber nicht mehr flüssig, brauche Arbeit. Raiza erwidert: „Zurzeit hab ich etwas Geld, ich greif dir unter die Arme.“

Das Angebot zur kurzfristigen Sexarbeit überrascht mich. Aber ich habe meine Prinzipien, wenn es um verrückte Chancen geht. Ich benehme mich, als wäre mir gerade etwas Alltägliches passiert. Die Regeln des normalen Lebens sind außer Kraft gesetzt. Am besten lasse ich alles normal erscheinen und stelle keine Fragen. Mit Handkuss sage ich zu und fliege hoch in den Gigolo-Himmel.

Auch Raiza hat so etwas noch nie gemacht. Doch sie ist auf der Flucht. Und durch mich erhofft sie sich nun einen Lichtblick.

1.

Ankunft mit Zigarette

17.000 Inseln und Hunderte Kulturen: Hier würde ich mein Paradies finden, träumte ich, als ich nach Indonesien ausgewandert bin. Der Duft der Frangipaniblüten erinnert mich täglich daran, wie wahr mein Traum geworden ist.

Raiza ist nicht etwa nervös wegen des Dates. Sie hat einfach Angst.

*

Als ich auf der Datingapp Tinder eine Einladung zum Sex kriege, mit der unbedingten Aufforderung für Geheimhaltung, steige ich auf meinen Scooter und fahre zu ihrem Bungalow, zwanzig Kilometer von einer javanischen Kleinstadt an die Küste. Raiza kommt mir von der Terrasse entgegen, zieht hart an einer Zigarette. Ihre Bewegungen sind effektiv und schnell, erinnern an Kampfsport. „Selamat malam“, sage ich, guten Abend. „Ja. Du hast mich also gefunden, willkommen!“ Raiza strahlt Hitze und Nervosität aus, daneben scheint sie unkompliziert, offen, sympathisch. Wir setzen uns auf die Terrasse. Auch ich zünde mir eine Zigarette an.

Kaspar auf seinem Roller
Kaspar Anderegg/TONIC

Kaspar auf seinem Roller

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Raiza beginnt zu erzählen: „Du musst mir hoch und heilig versprechen, deinen Besuch, mich und meinen Aufenthaltsort geheim zu halten. Ich bin zusammen mit meiner Tochter auf der Flucht vor meinem Ehemann. Als ich dir meinen Standort schickte, bin ich ein großes Risiko eingegangen. Wenn er mich findet, lande ich im Krankenhaus. Und ich warne dich: Vielleicht werde ich dir große Probleme bringen. Das ist kein Spiel. Wenn dir das bewusst ist und du meine Regeln einhältst, kannst du mit ins Zimmer.“ Ihr Ehemann hat Raiza mehrmals krankenhausreif geschlagen. An die letzten Schläge kann sie sich nach vier Monaten immer noch nicht erinnern, Amnesie. An den zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt schon. Seit drei Monaten ist sie mit ihrer Tochter auf der Flucht. Ihr Ehemann und seine Freunde, allesamt aus dem kriminellen Milieu, suchen sie. Der Vater will die Tochter zurück. Raiza vermisst einen Mann, in dessen Armen sie einschlafen kann. Die Entscheidung, mich einzuladen, war ein großes Risiko. Raiza ist nicht etwa nervös wegen des Dates. Sie hat einfach Angst.

Für einen Moment bin ich schockiert. Von Anfang an fand ich Raiza umwerfend heiß, nun würden uns wenige Schritte in ihr Bett beide in Gefahr bringen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Ehemann gerade diese Nacht aufkreuzt, ist winzig, und ich liebe verrückte Geschichten. „Das klingt richtig scheiße. Ich will dir sicher keine Probleme machen. Diese Nacht, dein Name und dein Bungalow, alles bleibt geheim. Du kannst auf mein Wort zählen“, antworte ich.

2.

Raiza und die reichen Expats

Raizas Tochter ist noch wach. Sie weint, als ich Raiza zum ersten Mal berühre. „Sie hat die ganze Gewalt mitbekommen und Angst, dass du mir wehtun willst“, meint Raiza, „Sie hat noch nie gesehen, wie ein anderer Mann mich berührt. Sie kennt nur die Gewalt meines Ehemanns. Deshalb muss sie erst Vertrauen zu dir fassen.“ Eine Mischung aus Leid und explosiver Lust liegt in der Luft. Ich bin bereit für die Grenzerfahrung, das Leben ist kurz. Wir gehen ins Zimmer.

Ihre Flucht bezahlen verschiedene Männer, die Raiza mit ihrem Charme und ihrer Schönheit bezirzt. „Ich bin aber keine Prostituierte und will auch nicht mit verheirateten Männern schlafen. Nur einmal habe ich das getan, für 1.000 Dollar pro Nacht. Mir hat er erzählt, dass er Single ist. Dabei war seine Frau auf Amerikareise. Ich versteh die Männer nicht, für den Preis könnten sie hier 10 Frauen haben, die jünger sind als ich. Seh ich so gut aus?“ Ich sage Ja und meine es auch.

„Seh ich so gut aus?“ Ich sage Ja und meine es auch.

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Indonesien ist ein günstiges Land mit wenig Regeln und Kontrolle. Gerade ältere Expats haben oft so viel Geld, dass sie sich hier fast alles erlauben können. Viele gehen regelmäßig zu Prostituierten. „In meinem früheren Leben hatte ich viele Freunde und Bekannte aus der Expatszene. Von diesen Männern hole ich mir das Geld, um meine Flucht zu finanzieren. Ich leiste ihnen Gesellschaft, trinke Wein mit ihnen und schaue, dass sie sich wohlfühlen. Die meisten helfen mir dann aus Sympathie und Mitgefühl. Einer der Männer überweist mir jeden Monat 500 Dollar. Ich weiß, wie diese Männer ticken.“ Unterkommen kann Raiza in ihrem Expat-Bekanntenkreis aber nicht. Ihr Ehemann kennt sie alle. Raizas Kontakt nach außen beschränkt sich auf kurze Treffen mit Fremden und Gespräche mit ihrem Anwalt. Ihr Aufenthaltsort bleibt geheim.

Raiza sucht nicht nur Sex, sondern auch Nähe und Schutzgefühl. Ab jetzt bezahlt sie mich dafür. Mit dem Geld der Männer, die sie ficken wollen.

Der Tinder-Chat handelt von der momentanen Hitzewelle.
Kaspar Anderegg/TONIC

Der Tinder-Chat handelt von der momentanen Hitzewelle.

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Raiza zeigt mir ihren Tinder-Account. Etwa 200 Männer sehe ich in der Chatleiste. Die meisten Männer schreiben groben Unsinn. Zwischen dem Angebot einer „Spezialmassage“ und dem Versprechen auf einen unvergesslichen Orgasmus finde ich wenig an normaler Konversation. Ein australischer Anwalt schreibt ihr: „Sei keine Bitch und komm vorbei. Denk an dein Karma.“„Fick dein Karma und lass mich in Ruhe“, steht darunter. „Ich habe sehr lange überlegt und gechattet, bis ich dich ausgewählt habe. Am Schluss war es simpel. Du kannst Indonesisch, siehst gut aus und hast mich nicht billig angemacht. Du hast mein Vertrauen geweckt. Das Handy habe ich danach wieder ausgeschaltet, damit ich nicht geortet werden kann. Du hast Glück!“, sagt Raiza.

Sie hat gerade ihre Tochter gebadet und läuft nackt durch den Bungalow. Ich bewundere ihre festen Brüste und ihren knackigen Po, als sie sich im Spiegel anschaut. „Ich bin nicht mehr schön. Ich habe zwei Kilo zu viel auf dem Bauch.“ – „Du siehst wundervoll aus. Lass die bloß dran!“, entgegne ich, während ich sie umarme und das Spiel im Spiegel genieße. Noch mehr als ihre freiheitliche, spontane Art und ihr Aussehen betört mich ihr Parfüm. Ich atme den Duft schwerer, voller Dschungelblumen und küsse ihren Hals. Dafür kriege ich 20 Euro pro Tag und Tagesspesen inklusive Wein. Indonesiens Durchschnittslohn beträgt 230 Euro. Ich danke meinem Karma und versinke in der Arbeit.

Tagsüber fahre ich Raiza herum. Immer auf Straßen, die sie für sicher hält. Sie will raus aus dem Bungalow, an die Sonne und an schöne Orte. Auf der Flucht, aber immerhin im Paradies. Ich halte mich an ihre Anweisungen: „Wenn wir essen gehen wollen, muss ich dir den Ort zuerst genau beschreiben.“ Raiza muss sicher sein, dass keiner ihrer Bekannten dort verkehren könnte, und dass sie bei Problemen Hilfe bekommt. Sie wechselt regelmäßig den Aufenthaltsort. Alle nötigen Einkäufe tätigt sie in nächster Nähe zu ihrem Zimmer. Obwohl sie ihre Handynummer gewechselt hat, schaut sie, dass man sie nicht orten kann. Bevor ich kam, war sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Jetzt fühlt sie sich ein wenig sicherer. Trotzdem: Man sieht ihr die Sorge um die Zukunft und vor allem um ihre Tochter an. „Die Tochter ist der Grund, wieso ich trotz allen Schlägen dankbar bin, gerade ihn geheiratet zu haben“, fasst sie ihr Mutterglück zusammen.

3.

Onkel Kaspar

Nach drei Tagen fragt Raizas zwei Jahre alte Tochter am Morgen nach mir und nennt mich „Onkel“. Sie beginnt mich zu kopieren. Die Schultermassage, die ich Raiza manchmal gebe, will sie an mir versuchen. Ich kitzle ihren Bauch. Nur wenn mich Raiza „Baby“ nennt, wird sie wütend. Sie sei das einzige Baby hier. Sie hat Vertrauen zu mir gefasst und sieht mich bisweilen verschwörerisch an, wenn sie um 2 Uhr nachts wieder einmal Milch will. Aus Prinzip schläft sie nicht ein, solange sie das Gefühl hat, es könnte etwas Spannendes passieren. Wenn wir Sex wollen, warte ich im Nebenzimmer auf Raiza, bis sie ihre Tochter zum Schlafen gebracht hat.

Gemeinsam mit ihrem Anwalt bereitet Raiza das Gerichtsverfahren gegen ihren Ehemann vor. Die Polizeiverhöre seien sehr verwirrend und anspruchsvoll gewesen. Leider fehlen noch immer stichfeste Beweise. Wegen seiner kriminellen Machenschaften kann sie ihn nicht einlochen. Immerhin hat sie sich mehrere Jahre in seinem Milieu bewegt. Niemand kommt mit weißer Weste raus, wenn er länger mit Kriminellen zu tun hat. Sie käme mit ins Gefängnis. Im schlimmsten Fall bliebe er sogar draußen. Er hat Beziehungen und Geld, sie nicht. Sie hat gehört, dass ihr Ehemann schon vor Beginn des Verfahrens 9.000 Dollar an Anwaltskosten bezahlt hat, in Indonesien mehrere Jahreslöhne. Ihre Situation ist prekär, ich bewundere ihren Kampf. Trotz allem schafft sie es, ihre Tochter glücklich zu machen und selbst Momente des Glücks zu finden. „Zuerst muss ich mich um die existenziellen Dinge kümmern, wie jeden Tag. Meine Tochter muss versorgt sein, ich muss Essen und Hygieneartikel eingekauft und mit meinem Anwalt telefonieren. Danach können wir Spaß haben.“

Ihr Ehemann hat schon vor Beginn des Verfahrens 9.000 Dollar an Anwaltskosten bezahlt hat, in Indonesien mehrere Jahreslöhne.

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Raiza ist die Hölle gewohnt. Neben den Schlägen kamen Prostituierte. Wenn ihr Mann pleite war, zahlte er sie mit den Einkünften aus Raizas Job als Barmanagerin. Mit den Prostituierten kamen die Drogen, er zwang sie zum Konsum. Sie war ihm mental und körperlich ausgeliefert. Um sich den Lebensstil mit Drogen und Prostituierten leisten zu können, stieg ihr Ehemann im größeren Maßstab in den Handel mit harten Drogen ein. Beide rutschten ab in eine sehr gefährliche und abgründige Welt. Vor zwei Monaten, schon auf der Flucht, hat Raiza einen HIV-Test gemacht. Infiziert ist sie nicht. Ich sehe die Narben in Raizas Augen, frage nicht nach Details. Die Vorstellung der Abgründe schmerzt genug. Sie hat etwas von einem verletzten Tier. Ein Raubtier immerhin. Zwischen den Narben finde ich Kampfgeist, viel Positivität und den unbedingten Überlebenswillen. Für sich selbst und ihre Tochter. Wie konnte sie nur so schwach sein, sich auf so eine Beziehung einzulassen, denke ich manchmal. Doch jetzt ist sie die stärkste Frau, die ich je kennengelernt habe.

4.

Keine falschen Kuschelhände

„Gib mir die Hand, und versprich mir, dich nicht zu verlieben. Ich würde gern länger mit dir zu tun haben, ohne dass es kompliziert wird“, wünscht sich Raiza. Wir sitzen auf einer Klippe und schauen in das wilde Meer unter uns. Es ist der vierte Tag mit ihr, unser Verhältnis ist freundschaftlich geworden. Die rotglühende Sonne verschwindet hinter dem Horizont. Zurück beim Bungalow trinken wir die zweite Flasche Wein und überlassen uns der Nacht. Der Sex ist hart. „Mach mit mir, was du willst und hör nicht auf meine Worte!“ Am nächsten Morgen weckt sie mich auf. Sie hat Pancakes und Kaffee gebracht. Wie jeden Morgen setzen wir uns auf den Terrassenboden. Ich umschließe mit beiden Beinen ihren Hintern und lege ihr Rosentattoo auf der Schulter frei. Ich gebe zu: Solange ihr Po in nächster Nähe ist, lassen mich ihre Probleme kalt.

Dann denke ich wieder, dass das doch genau das ist, was sie will: für eine Weile vergessen. Nicht noch einen Mann, der ihrer Hilfsbedürftigkeit folgt, vielleicht nur als Vorwand, um mit ihr ins Bett zu kommen. Eine Liebesbeziehung kann sie noch weniger brauchen, Fliehen hat nichts Romantisches. Sie ist stärker als ich, bezahlt mich, kontrolliert unser Verhältnis. Ich muss mich ihrer Flucht und der Sorge um ihr Kind unterordnen. Distanz und Kontrolle sind ihr wichtig. „Ich mag ehrliche Menschen. Wie du siehst, bin ich bei allem ehrlich mit dir. Auch beim Sex zeige ich dir meine ehrlichen Gefühle. Gleiches erwarte ich von dir. Ich mag es, dass der Sex mit dir hell und dunkel, sanft und hart zugleich ist. Ich will keine falschen Kuschelhände.“

Ihr unfreiwilliger Existenzialismus und ihr Lebenshunger machen den Sex umso besser. Er ist mehr als Befriedigung, lässt mich die Realität kurz vergessen.

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„Scheiße! Ich brauche eine halbe Stunde Zeit für mich!“ Es ist der fünfte Tag, Raiza kommt aufgelöst vom Anwalt zurück in den Bungalow. Das Gespräch war nicht weit weg von ihrer ehemaligen Wohnung, die Fahrt brachte sie zurück ins Viertel ihrer Albträume. „Du hast keine Vorstellung von meinem Leben. Alles an meiner Zukunft ist ungewiss. Mein Kind braucht mich, ich brauche Geld, im schlimmsten Fall werde ich mich prostituieren müssen. Ich habe keine Ahnung, wie lange meine Flucht dauern wird. Wenn das Gericht für meinen Ehemann entscheidet, muss ich weit weg von ihm nochmals ein neues Leben beginnen. Schau mich nicht an, als hättest du irgendwelche Probleme. Du hast keine! Wenn du irgendein Problem mit mir hast, dann hau ab! Ich habe dich vor meiner Situation gewarnt. Du wirst Probleme kriegen wegen mir, weißt du noch? Berühr mich nicht und lass mich eine halbe Stunde durchatmen. Ich drehe sonst durch!“

Nach der halben Stunde massiere ich ihr vorsichtig die Schultern. „Sorry, ich bin vorhin durchgedreht“, entschuldigt sie sich. Ich versuche sie zu beruhigen: „Alles ist okay. Entspann dich. Du musst deinen Kopf freikriegen. Du bist jung, schön und intelligent. Du hast ein großes Problem zu lösen, danach bist du frei und hast das Leben vor dir.“ Ich bin hin- und hergerissen zwischen ehrlicher Sorge, dem Wunsch ihr zu helfen, der Lust auf Sex und dem eigenartigen Stolz, dafür auch noch bezahlt zu werden. Ganz egoistisch: Ihr unfreiwilliger Existenzialismus und ihr Lebenshunger machen den Sex umso besser. Er ist mehr als Befriedigung, lässt mich die Realität kurz vergessen. Ich koste ihren Hunger voll aus. Bin auch ich auf der Flucht vor einem sicheren, problemfreien, aber auch langweiligen, geregelten Leben in der Schweiz? „Du siehst aus, als wärst auch du gut im Weglaufen“, meint Raiza. Ich sage nichts dazu.

Morgen ist Valentinstag. Ich könnte aufhören Geld anzunehmen und ihr stattdessen Blumen und Wein kaufen. Die Erfahrung wäre immer noch faszinierend und großartig. Aber: Ich bin seit einem Jahr auf Reisen. Manchmal verdiene ich mit Nebenjobs etwas dazu, aber im Grunde lebe ich von meinen kaum noch vorhandenen Ersparnissen. Sie ist die Finanzspritze, die meine vorzeitige Rückkehr in die Schweiz verhindert.

Ich mag Raiza und freue mich, wenn ich ihr Glücksmomente beschere. Auch sie gibt sich Mühe, mir keine Probleme zu bereiten und mich glücklich zu machen. Ihr Riesenproblem, wie ein schwarzes Loch in ihrer Existenz, versucht sie bei mir auszublenden. Aber: Es ist sichtbar. Es weckt Mitgefühl und den Beschützerinstinkt. Mehr darf es auf keinen Fall wecken. Am Ende des schwarzen Lochs lauert ein gefährlicher Mann mit gefährlichen Freunden. „Sie zerstückeln dich, wenn sie merken, dass du mich fickst“, warnt mich Raiza. Falls ich mich hineinziehen lasse, zerstückeln mich zuerst ihre Emotionen und ihr Überlebenskampf, fühle ich. Der Sex bläst alles weg.

5.

Der Abschied wird zur Flucht

Ich verliere die Professionalität. Es kam schleichend: die Emotionen, das Mitleid, der verhängnisvolle Drive ihres Lebens. Ich fühle mehr als gesunde Sympathie für die zwei. Ich schaue Raiza und ihre Tochter an, und denke: „Scheiße, man muss doch etwas tun können!“. Ich kann nichts tun. Die einzigen, die etwas tun können, sind Raiza, ihr Anwalt und die Männer mit Geld. Ich bin fein raus, genieße und bringe Genuss. Aber die Situation geht mir ans Herz, meine Rolle kann ich nicht mehr spielen.

Ich steige aufs Motorrad und schaue Raiza in die Augen: „Scheiße.“

*

„Das ist genau das, was ich nicht wollte. Nun hast du auch Probleme und ich ein Problem mehr am Hals. Warum entspannt du dich nicht einfach, bitte?“ Raizas Blick fleht mich an. Mittlerweile bin ich eine Woche hier, mein Gigolo-Job wäre zu Ende. Beide würden wir das Verhältnis gerne verlängern. Am Nachmittag wird klar, dass das nicht geht. Ich fühle mich nicht mehr wohl, der Situation nicht mehr gewachsen. Es ist unfair, aber ich bin sogar wütend auf sie, weil ihre Lage den Alltag dominiert, und wir beide nichts dagegen tun können. Dazu kommt Mitleid. Raiza sagt: „Ich mag dich und will, dass wir länger Freunde bleiben. Aber wenn du mich und meine Probleme nicht aushältst, musst du gehen. Ich kann an meinen Problemen zurzeit nichts ändern. Schau mich an, ich habe Schuldgefühle wegen dir.“ Auf keinen Fall will ich der Tropfen sein, der, wenn auch ungewollt, ihr Überdruckfass zum Überlaufen bringt. Ich erkenne erst jetzt, unter was für einem Anspannung sie wirklich steht. Ich gehe auch zu meinem eigenen Schutz. Wir vereinbaren, dass sie sich wieder meldet, sobald es ihr besser geht.

Der Abschied läuft schlecht. Ein Beweis dafür, dass wir emotional schon zu verstrickt sind. Die Tochter schreit „Onkel!“. Raiza ist verwirrt und weiß genauso wenig wie ich, was sie tun soll. Ich versuche mich von der Tochter zu verabschieden, aber sie krümmt sich zusammen und schreit. Anstatt die Tochter für eine längere Weile zu trösten und Raiza mit einem schönen Kuss zu verabschieden, fliehe ich. Ich steige aufs Motorrad und schaue Raiza in die Augen: „Scheiße“, lese ich darin. Bald schreiben wir uns: Raiza melde sich wieder, sobald sie das Problem mit ihrem Ehemann gelöst habe. „Bitte verkompliziere die Situation nicht weiter. Lass mich bis dahin in Ruhe“, meint sie. Ihre Telefonnummer und ihren Aufenthaltsort wechselt sie, um auf Nummer sicher zu gehen.

6.

Nachricht von Raiza

Zehn Tage später meldet sich Raiza. Sie ist kurz vor dem Aufgeben und überlegt, zurück zu ihrem Ehemann zu gehen. Sie schreibt wieder mit ihm, macht sich Illusionen und zerbricht sie wieder. Ginge sie zurück, wären ihre Angst und ihr Kampf zu Ende. Vielleicht kämen die Schläge wieder. Aber sie könnte aufatmen. Sie wäre von der stetigen Sorge, von ihrem dauernden Drahtseilakt befreit. Innerlich schreie ich: „Geh nicht zurück!“ Aber ich sage nichts. Ihre Lage ist zu kompliziert, ich will mir nichts anmaßen. Nur Glück wünsche ich ihr auf den Weg. Vielleicht will sie mich irgendwann wieder treffen, wenn sich die Situation geklärt hat. Will ich das? Falls sie ihren Ehemann tatsächlich ins Gefängnis bringen kann, sofort. Ich wäre gerne mit ihr befreundet.

Habe ich das Gute richtig gemacht? War das Schlechte nicht zu vermeiden? Ich bereue nichts. Für elf Momente wurde das Leben groß.

Redaktion: Fabian Stark

7.

Post Scriptum vom 19. August 2017

Drei Monate lang habe ich nichts von Raiza gehört, da schreibt sie mir auf Whatsapp: „Ich brauche dringend deine Hilfe. Ich musste von Yogyakarta fliehen und bin jetzt in Jakarta. Hier kenne ich mich aus und kann richtig untertauchen. Aber ich brauche dringend Geld. Ich habe nicht einmal genug Geld, um Babybrei für meine Tochter zu kaufen. Kannst du mir helfen?“

Raiza hat mich für Sex und Gesellschaft während ihrer Flucht bezahlt. Jetzt kämpft sie ums Überleben. Nicht nur sie, auch ihre Tochter ist bedroht. Auf Sulawesi hätte sie Familie, aber es ist zu riskant sie zu kontaktieren. Auch ihre Freunde muss sie vergessen. Ihr krimineller Ehemann kennt alle. Ich aber stehe außerhalb ihres Kontaktnetzes.

Viel kann ich ihr nicht schicken, eine Langzeitreise zehrt am Budget. Raiza schreibt mich stündlich an, ob ich schon überwiesen habe. Ich bin nicht mehr ihr Gigolo, sondern hoffe, dass ihre Flucht gut verläuft und sie baldmöglichst eine Lösung für ihre Geldprobleme findet. Ich schicke ihr 100 Dollar, die reichen eine Woche aus. Danach beginnt ihr Überlebenskampf von Neuem.

Jakarta ist eine der größten Städte der Welt – der perfekte Ort zum Untertauchen, aber auch ein hartes Pflaster. Die Schere zwischen Arm und Reich ist riesig. In den Slums kämpfen mit Raiza Millionen andere Indonesier um eine bessere Zukunft. Als sich Raiza wieder einen Monat lang nicht meldet, hoffe ich, dass sie durchgekommen ist und Hilfe gefunden hat. Auf meine Fragen antwortet sie nicht.

Einladung nach Jakarta

*

Aber am 29. Juli kriege ich wieder Nachricht: „Hast du Lust mich in Jakarta zu besuchen? Mir gehts gut. Meine Tochter ist bei meiner Familie in Sulawesi und ich genieße eine freie Woche. Lass uns um die Häuser ziehen! Ich zeige dir Jakarta. Ich vermisse dich sehr.“ Also lege ich einen Stopover über Nacht in Jakarta ein. Bei Raiza übernachten kann ich nicht. In ihrem Wohnviertel im Süden leben viele konservative Muslime, Männerbesuch würde Aufsehen erregen, sie als Prostituierte gelten. Ich buche ein Hotel im Zentrum.

Raiza schickt mir ein Foto von ihr in einer Bar und die Location auf Google Maps. „Es wird dir gefallen. Es ist mehr ein Club für Männer als für Frauen. Dort tanzen Mädchen.“ „Ein Stripclub?“, frage ich. „Nein, ich bin zwar verrückt, aber so verrückt nun auch wieder nicht“, meint sie. 20 Minuten später erhalte ich ein Foto mit sechs jungen Frauen, die an der Stange tanzen.

Raiza sitzt vor der Bar auf einer Bank und isst Bakso, eine indonesische Fleischsuppe. Sie ist schick angezogen, ihr Parfüm ist immer noch das gleiche und weckt Erinnerungen. „Endlich bist du da. Komm, wir gehen rein!“ Wir setzen uns direkt vor die Stripperinnen in die erste Reihe. Ich scheine der jüngste Mann im Club zu sein. Und meine Frauenbegleitung ist älter als ich. Die Männer sind durchwegs über 40 Jahre alt. Einige sehen aus wie 60; die Stripperinnen, als wären sie gerade 18 geworden. Raiza lädt mich ein, ich hole Long Island und Whisky Cola. Ich fühle mich etwas komisch in diesem Setting – sobald ich Blickkontakt herstelle, tanzen die Frauen wilder und fassen sich zwischen die Beine. Raiza rümpft die Nase: „Ich hasse Stripclubs.“

Raiza beginnt zu erzählen: Zwei Tage nach unserem abrupten Abschied hat ihr Ehemann sie gefunden und versucht, die Tür aufzubrechen. „Ich habe alle angerufen. Anwalt, Polizei, Mafia und meine Freunde.“

„Die Mafia?“

„Natürlich auch die Mafia. Ich habe meine Kontakte. Glaubst du, Polizeischutz reicht gegen ihn aus? Wenn er gemerkt hätte, dass ein Mann in meinem Zimmer ist, wäre er nicht allein gekommen, sondern mit seinen Freunden. Dann hätte er die Tür in Nullkommanichts aufgebrochen und du wärst tot. Zum Glück habe ich dich früh genug weggeschickt!“

Nicht mit der Polizei, sondern zusammen mit der Mafia finden Raiza und ihr Ehemann eine gemeinsame Lösung. Von 8 Uhr morgens bis 6 Uhr abends darf er zu Raiza und Zeit mit seiner Tochter verbringen. Dafür lässt er sie in der Nacht in Ruhe und verzichtet auf jegliche Gewalt. Raiza akzeptiert. Sie will keine Probleme, bis der Scheidungsprozess vorüber und sie endgültig frei ist. „Aber er wollte mich ficken. Er ist in der Nacht aufgetaucht und hat an die Tür getreten. Er ist wahnsinnig. Er hat vor nichts Angst. Aber ich habe Angst gekriegt und bin am anderen Morgen mit meiner Tochter nach Jakarta abgehauen.“

In Jakarta hat sich Raiza drei Monate durchgekämpft und jeden Kontakt zu ihrem sozialen Netzwerk und zu ihrer Familie vermieden. Nur mit ihrem Anwalt hat sie telefoniert – ohne ihren Aufenthaltsort zu verraten.

Jetzt bin ich clean und seriöser als alle meine Freunde.

*

Erst als der Gerichtstermin für den endgültigen Prozess festgelegt wird und ihr Mann eine Gerichtsvorladung erhält, fühlt sie sich sicherer. Die Arme des Gesetzes fangen auch im korrupten und langsamen Indonesien an zu greifen. Ein alter Freund vermittelt ihr einen Job als Immobilienmaklerin, Bekannte geben ihr finanzielle Starthilfe. Raiza bringt ihre Tochter zu ihrer Tante in ein kleines Dorf nach Sulawesi. Sobald der Scheidungsprozess vorüber ist, will sie ihre Tochter wieder abholen.

„Meine Freunde sind alle erstaunt. Sie kennen die neue Raiza gar nicht. Sie kennen nur die verrückte Raiza, die dauernd Party macht und Sabu-Sabu [Methamphetamin] raucht. Aber jetzt bin ich clean und gesund und seriöser als meine Freunde.“ Ich nehme meinen vierten Long Island, Raiza ist schon länger betrunken.

Wir nehmen ein Taxi zu meinem Hotel. „Warum wollen alle Männer immer nur ficken?“, fragt mich Raiza im Bett. „Ich habe einige Dates gehabt. Entweder wollen sie mich nur ficken, oder sie haben Angst vor mir.”

Am nächsten Morgen packt Raiza die Hotelschlappen in ihre Handtasche. „Als Erinnerung an unser Treffen. Wer weiß, ob und wann wir uns wieder sehen.“ Sie küsst mich ein letztes Mal. „Pass auf dich auf und sei nicht verrückt!“ Ich torkle ins Taxi, noch immer betrunken. In zweieinhalb Stunden ist mein Flug. Ich bin zu spät fürs Check-In und renne mit der Kulanz von Lion Air zum Boarding. Mein Kopf pocht, mein Herz schlägt zu weit aus. Take-Off. Überall an mir rieche ich Raizas Parfüm.

Redaktion: Fabian Stark