
Was ich in Deutschland verdiene, macht mich hier zu einem reichen Mann
Felix will raus aus Elmina, raus aus Ghana, raus aus Afrika. Nach Europa. Er flüchtet nicht, sondern will arbeiten und Geld in sein Land bringen und sein eigenes Geschäft aufbauen. Dreimal riskiert er dafür als blinder Passagier sein Leben.
Ohne Geld, ohne Pass nach Europa – als Felix von den Plänen seiner älteren Freunde erfährt, „nach draußen“ zu reisen, glaubt er ihnen kein Wort. Er ist 20 Jahre alt und besucht die Senior High School in Komenda, einer Kleinstadt an der Küste Ghanas. Am Abreisetag trägt er die Taschen seiner Freunde und begleitet sie bis nach Takoradi im Westen Ghanas. Dort trennen sich die Wege; Felix’ Freunde steigen in einen Kleinbus, der sie in die Elfenbeinküste bringen wird. „Du wirst von uns hören“, versprechen sie ihm, bevor sie losfahren.
Zwei Jahre später schließt Felix die Schule ab. Mit seinem Zeugnis allein kriegt er keinen Job, auf Bewerbungen bekommt er keine Antwort. Er weiß nicht, wie es weitergehen soll – am liebsten wäre er selbstständig, sein eigener Boss in einem kleinen Unternehmen. Doch um ein „Business“ aufzubauen, braucht er Geld. Geld aber hat er keines, seine Eltern sind geschieden, können ihn und seine fünf Geschwister nicht unterstützen. Felix will raus aus Elmina, raus aus Ghana, raus aus Afrika. Nach Europa. Er flüchtet nicht, sondern will arbeiten und Geld in sein Land bringen, um sein eigenes Business aufzubauen und ein neues Leben zu beginnen. Dreimal riskiert er dafür als blinder Passagier sein Leben.
Felix erfährt, dass es seine Freunde tatsächlich bis in die USA und nach Frankreich geschafft haben. Manchmal geht er zu einem Kiosk und ruft einen von ihnen an. Sie erzählen von ihrem Leben da „draußen“: Es geht ihnen gut, sie haben Jobs, Papiere, gehen zur Universität. Einer hat sogar eine weiße Freundin. Je öfter Felix mit ihnen redet, desto mehr wünscht er sich, mit seinem Leben in Ghana Schluss zu machen. Was hat er schon zu verlieren? Auch er will abhauen.
Das Geld für die Fahrt klaut er seiner Mutter
![Auch in Ghana gibt es Geld. Doch erstmal braucht [man:mensch] welches, um an mehr zu kommen. Und in Europa verdient [man:mensch] schneller.](/assets/img/_cache/reichermann_2-r-w600-q100-m1453920162.jpg)
Auch in Ghana gibt es Geld. Doch erstmal braucht man welches, um an mehr zu kommen. Und in Europa verdient man schneller.
Von seinen Freunden erhält Felix alles, was er braucht: etwas Geld, das sie ihm auf ein Western Union-Konto überweisen – und Informationen: Er müsse nach Abobo Doumé in die Elfenbeinküste reisen. Von dort werden ihn Fischer zu einer kleinen Insel bringen namens Île Boulay. Dort werde er alles lernen, was er für seine Überfahrt als blinder Passagier wissen muss.
Innerhalb weniger Wochen trifft Felix die nötigen Vorbereitungen. In der Elfenbeinküste wird er mit seinem Englisch nicht weit kommen, zumindest ein paar Brocken Französisch muss er lernen. Seiner Familie erzählt er, dass er seine Tante in Takoradi besuchen werde. Gemeinsam mit zwei Freunden macht er sich im Dezember 2004 auf den Weg. Das Geld für die Fahrt klaut er seiner Mutter.
September 2012. Es ist ein schwüler Tag in der Nähe von Komenda, die Sonne brennt vom Himmel. Felix, mittlerweile 29, sitzt auf einer Holzbank und beobachtet das Geschehen auf der Hauptstraße, als er eine deutsche Bekannte vorbeigehen sieht. Sie erkennt Felix und setzt sich zu ihm. Schnell kommt er auf seine Heimat zu sprechen: „Wie kann es sein, dass unsere Politiker ihre Kinder im Ausland zur Schule schicken, sich im Ausland behandeln lassen, wenn sie krank sind? Unsere Politiker essen unser Geld, anstatt unser Land zu verändern.“ Kleine Schweißperlen treten auf seine flache Nase.
Felix will neue Erfahrungen machen, etwas von der Welt sehen, nicht im Fernsehen, sondern in echt. „Wir Ghanaer tragen Klamotten wie ihr, Jeans und T-Shirts. Unsere Frauen wollen Haare wie du, glatt und ordentlich. Dafür schmieren sie sich irgendwelche Chemikalien rein. Wir haben unsere Wurzeln verloren. Wenn ich hier mit dir sitze und mich mit dir unterhalte, schauen mich die Menschen anders an, als säße ich hier allein. Warst du im Ausland – in Europa oder den USA –, betrachten die Menschen dich mit Respekt. Du hast es zu etwas gebracht, du bist jemand.“
„Was ist dir wichtig im Leben?“, fragt Felix. Die Europäerin redet von Familie, Freunden, einem spannenden Beruf und neuen Erfahrungen. Aber doch nicht von Geld. Felix aber will etwas verdienen, und zwar viel! Der Deutschen wird klar, dass es zwar nicht viel Geld ist, was sie für ihre Wünsche braucht, aber ganz ohne geht es nicht. „In Ghana bekommst du nichts geschenkt“, erklärt Felix. Es gibt kein Kindergeld, die weiterführende Schule kostet, die Studiengebühren sind höher als in Deutschland. Auch eine Freundin muss man sich leisten können. Felix weiß: Zwar gibt es auch in Ghana Geld zu verdienen, aber erstmal braucht man welches, um an das Geld anderer zu kommen. Und das geht in Europa halt schneller, meint er. „Viele meiner Freunde dort haben zwei oder mehr Jobs. Und auch ich werde arbeiten. Ich werde Autos kaufen und nach Ghana bringen. Ja, Autos!“ Plural, nicht Singular.

Felix am Strand von Elmina
Gescheiterte Flüchtlinge unterrichten Felix
Die meisten Menschen an der Küste Ghanas leben vom Fischfang. Die Männer fahren mit einem Kanu aufs Meer hinaus und fangen – an einem guten Tag – Thunfisch, Barrakudas und Makrelen, welche die Frauen räuchern oder auf dem Markt verkaufen. Doch immer häufiger bleiben die Netze leer, denn im Golf von Guinea betreiben europäische Trawler Fischerei im großen Stil, und ghanaische Fischer sprengen im Wasser Dynamit, um große Mengen toter Fische zu fangen. Viele fahren deshalb nicht nur von ihrem Heimathafen in Ghana aus zur See, sondern folgen den Fischschwärmen entlang der Küste Westafrikas.
Als Felix 2004 in der Elfenbeinküste ankommt, trifft er darum auch Männer aus seiner Heimatstadt, die sogar Fante, seine Sprache, sprechen. Felix muss nun zur Île Boulay. Die kleine Insel liegt 30 Minuten vor der Küste in einer Lagune vor Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, und direkt gegenüber vom großen Überseehafen.
Mit einem seiner Landsleute paddelt Felix zum Eiland. Er kann lediglich Palmen ausmachen, die den Strand der Insel säumen, sie scheint vollkommen unbewohnt. Erst als sie näher kommen, sieht er die einfachen Hütten aus Bambus und Palmblättern. Mehrere Dutzend Männer bereiten sich auf Île Boulay auf ihre Überfahrt mit einem der großen Containerschiffe vor. Sie sind in sogenannten „Ghettos“ organisiert, je nachdem, welche Nationalität sie haben: Ghanaer, Ivorer und Nigerianer. Felix lebt mit einem Bekannten seiner erfolgreich geflüchteten Freunde zusammen. Als Neuankömmling ist er ein „Junior“, muss seinem „Senior“ dienen, für ihn Wasser holen und Wäsche waschen. Das Leben auf der Insel ist hart, es gibt keinen Strom, kein Trinkwasser, Essen muss er von Abobo Doumé mit dem Kanu herüberbringen. Auch einige ivorische Kriminelle haben sich vor der Polizei hierhin in Sicherheit gebracht. Felix ist stets wachsam, das wenige Geld, das er mitgebracht hat, trägt er Tag und Nacht am Körper. Männer, die schon einmal einen Fluchtversuch unternommen haben, aber gescheitert sind, unterrichten Felix. Er lernt verschiedene Schiffstypen und Reedereien auseinander zu halten. Delmas, Messina, NDS, Maersk Line, deren Routen, Besatzungen. „Nehmt nie ein Schiff mit chinesischen Seeleuten. Wenn sie euch finden, werden sie euch auf hoher See zwingen, ins Wasser zu springen“, versichern sie Felix.
Die Anordnung der Container verrät, ob ein Schiff nach Europa fahren wird oder weiter entlang der Küste Westafrikas nach Ghana, Togo oder Nigeria. „In afrikanischen Häfen gibt es weniger Kräne, deshalb sind die Container auf Schiffen, die von Afrika aus nach Europa fahren, weniger hoch und weniger dicht gepackt als auf den Schiffen, die aus Europa kommen“, erklären ihm seine Lehrer.
Als einer der wenigen auf Île Boulay kann Felix lesen und schreiben. Er bekommt die Aufgabe, mit einem Fernglas den Hafen von Abidjan zu beobachten. Akribisch notiert er die Namen aller Schiffe, die ein- und auslaufen, Datum, Uhrzeit und Ladung. Er schreibt auf, wann die Wachmänner auf Deck patrouillieren und die Polizeiboote das Hafenbecken kontrollieren.
Chili gegen Wachhunde
In seiner Freizeit verfasst er Briefe für andere Inselbewohner an deren Familien und kann sich so ein wenig Geld für die Utensilien seiner Vorratstasche verdienen. Die Tasche wird er mit an Bord nehmen, sie ist seine Lebensversicherung. Um die Tasche wasserdicht zu machen, kleidet er das Hosenbein einer Jeans mit mehreren Schichten Plastiktüten aus. Durch die Luft im Inneren schwimmt die Tasche auf dem Wasser und dient als eine Art Boje, auf die er sich im Notfall stützen kann. Hinein packt Felix alles, was er für die Überfahrt benötigt: Eine warme Jacke, sechs Halbliter-Flaschen Wasser, gemahlenes Maniok, Zucker und Sardinen in der Dose. Chili, um Wachhunde von sich abzulenken. Eine kleine Taschenlampe und ein Messer. Schlaftabletten, die er anderen blinden Passagieren, denen er begegnen könnte, verabreicht, um sie ruhig zu halten. Kleine Plastiktüten, in denen er Urin und Kot entsorgen kann. Jeans und Polohemd, damit er im europäischen Hafen nicht auffallen wird. Parfüm, um seinen Körpergeruch zu überdecken, schließlich wird er sich während der gesamten Überfahrt nicht waschen können.
Nach drei Monaten auf Île Boulay fühlt sich Felix bereit. Die Nacht ist schwarz, nur der Mond leuchtet hell über ihm und vier weiteren Entschlossenen. Zwischen drei und vier Uhr morgens steigen sie gemeinsam in ein Kanu und paddeln zu einem der Schiffe, die im Hafen liegen. Nach 45 Minuten erreichen sie das Boot. Vorsichtig schieben die Männer einen langen Bambusstab die Bootswand hinauf, bis ein Metallhaken an der Reling Halt findet. Stöcke, die seitlich in den Bambus gesteckt sind, dienen ihnen als Leitersprossen, um hinaufzuklettern. Felix klettert zunächst ohne seine Tasche nach oben, das Gewicht würde ihn behindern und zu groß wäre die Gefahr, dass die Tasche ins Wasser fällt. Mit einem Seil zieht er sie nach oben. An Bord suchen die Männer den Boden nach frischer Farbe ab. Ihre Fußabdrücke darin würden sie verraten. Plötzlich zerreißt Hundegebell die Stille. Während die anderen drei Männer voller Panik ins Wasser springen, öffnet Felix reflexartig die Tür zu einer Art Telefonkabine. Starr vor Schreck verharrt er in seinem Versteck.
Als die Crew am nächsten Morgen auf das Schiff kommt, kann er nicht sehen, was vor sich geht. Erst der Fahrtwind, die frische Luft, die so anders ist als im Hafen, verrät ihm, dass sie losgefahren sein müssen. Bis zum Abend traut er sich nicht aus seiner Kabine.
Nach Einbruch der Nacht sucht Felix sich ein besseres Versteck. Am unterschiedlichen Klang kann er volle von leeren Containern unterscheiden; leere Container sind nur mit einem Plastikband verschlossen, Felix muss es lediglich durchschneiden. In solch einem Container verbringt er die nächsten Tage zwischen Säcken und Kisten, nur nach Sonnenuntergang kommt er aus seinem Versteck, streckt seine Glieder und entsorgt seine Körperausscheidungen. Für ein paar Minuten genießt er den Fahrtwind und schaut auf das dunkle Meer. Felix weiß, dass die Fahrt aus der Elfenbeinküste nach Europa ungefähr fünfeinhalb Tage dauert. Im Hafen angekommen wird er sich unbemerkt von Bord schleichen und einen Unterschlupf suchen. Viele Flüchtlinge warten, das weiß Felix von seinen Freunden, an Überseehäfen auf ihre Brüder aus Afrika. Auf ihre Hilfe zählt er. Noch zwei Tage, bis das Schiff den Hafen erreichen wird.
Doch dann geht alles ganz schnell: Ein Hund bellt aufgebracht, Männer durchsuchen die Container, finden Felix schließlich. Sie bringen ihn zum Kapitän, ein Italiener, der wissen will, wo sich seine Komplizen verstecken. Felix’ Beteuerungen, der einzige blinde Passagier an Bord zu sein, helfen nichts, die Besatzung durchkämmt das Schiff von Rumpf bis Bug. Erst als sie die Suche einstellen, bekommt Felix eine kleine Kabine zugewiesen. Nachdem das Schiff im Hafen von Genua angekommen ist, wird er zur nächsten ghanaischen Botschaft gebracht. Einen Pass besitzt er nicht, nur einen abgelaufenen Schülerausweis. Der Botschafter spricht Fante mit ihm, erklärt ihn schließlich für ghanaisch. In einem Flugzeug bringt man Felix zurück nach Accra, die Hauptstadt Ghanas. Eine Behörde nimmt seine Daten auf und archiviert sein Foto, doch eine Haftstrafe erhält er nicht.
Noch einmal und noch einmal

Anna Behnke betreute von Okober 2010 bis September 2011 eine Jugendzeitung von fünf Senior High Schools in und um Komenda, Ghana. Ein ghanaischer Mitarbeiter ihrer Organisation erzählte ihr von Felix, dem gescheiterten Flüchtling. Als Anna im Sommer 2012 ein zweites Mal nach Ghana fährt, trifft sie sich mehrmals mit ihm. Noch immer verwendet er all seine Energie darauf, nach Europa zu kommen. „Soon, very soon I will be there and you won’t recognize me.”
Nur einen Monat verbringt Felix in Ghana, dann bricht er abermals in die Elfenbeinküste auf. Diesmal dauern seine Vorbereitungen auf Île Boulay nur wenige Tage. Doch auch sein zweiter Fluchtversuch scheitert: Bereits beim Zwischenhalt in Dakar, Senegal, finden ihn Mitglieder der Besatzung im Bauch des Schiffes. Felix ist sich sicher, dass sie Juju, schwarze Magie, angewandt hatten, um ihn aufzuspüren. Sie hätten noch nicht einmal nach ihm gesucht, einfach gewusst hätten sie, wo er sich versteckt hielt. Er hatte keine Chance. Abermals wird er zurück nach Ghana gebracht, abermals nicht inhaftiert. Felix ist am Ende seiner Kräfte und beschließt erst einmal zu arbeiten. Als Kellner in einem Restaurant verdient er genug, um über die Runden zu kommen.
Auf einer Taxifahrt trifft Felix einen Freund, der 2004 gemeinsam mit ihm zur Île Boulay aufgebrochen war. Er hat es geschafft – ist geflüchtet, hat Geld verdient und ist nach Ghana zurückgekehrt. Als der Freund aussteigt, will er für Felix mitbezahlen. Doch der lehnt ab. Er will seinen eigenen Weg gehen, nicht anderen auf der Tasche liegen.
Wenige Wochen später, im April 2007, macht Felix sich das dritte Mal auf in die Elfenbeinküste. Es ist gerade Regenzeit, ein guter Zeitpunkt, denn Wachleute werden nicht gerne nass. Felix klettert die Bootswand hinauf. Als er jedoch seine Tasche nach oben ziehen will, fällt sie ins Wasser. Einige Tage lang teilt ein anderer blinder Passagier seine Vorräte mit Felix. Er friert – nur T-Shirt und kurze Hose. Die Fahrt dauert merkwürdig lange. Schließlich sind die Vorräte aufgebracht, Felix und sein Kamerad haben Hunger und Durst – sie halten es nicht mehr aus. Sie kommen aus ihrem Versteck und stellen sich der Crew. Nun erfahren sie auch den Grund für die ungewöhnlich lange Fahrt: Das Schiff ist nicht auf dem Weg nach Europa, sondern nach Südafrika, um von dort aus weiter nach Sri Lanka zu fahren. Felix’ Reise aber endet abermals in Accra, Ghanas Hauptstadt.
Die Überfahrt als blinder Passagier hat Felix mittlerweile aufgegeben, nicht aber den Wunsch, in Europa zu arbeiten. Gerade plant er einen Visumsantrag für das Vereinigte Königreich, doch dafür muss er Kontoauszüge der letzten sechs Monate vorlegen, angeben, wer das Geld überwiesen hat, sich auf Tuberkulose testen lassen, einen genauen Reiseplan erstellen. Mithilfe eines Zwischenhändlers versucht er es trotzdem. Der Zwischenhändler verlangt Geld, ständig ruft er Felix an und verlangt Dokumente, Passbilder und Unterschriften. Jedes Mal muss Felix dafür vier Stunden nach Accra fahren. Zeit für einen Job hat er da nicht. „Kein Arbeitgeber würde mir das durchgehen lassen.“ Doch die Mühen sind es ihm wert. „Das wenige, was ich in Europa verdiene, macht mich hier zu einem reichen Mann.“