
“Aber ein Anruf bei der Polizei war auch keine Option”
Mithilfe von Community Accountability und Tranformative Justice sollen Menschen Konflikte selbstorganisiert lösen. Anders als polizeiliche Ermittlungen und Gerichtsprozesse stellt Community Accountability die Interessen der Betroffenen ins Zentrum. Klappt das? Alex* spricht mit uns über die Erfahrungen der beim emanzipatorischen Projekt e*space in Dresden.
Alex* ist Teil von e*space, einem feministisch-emanzipatorischen Projekt in Dresden, und macht Bildungsarbeit zum kollektiven Umgang mit Diskriminierung und sexualisierter Gewalt. Alex war bereits bei mehreren Community-Accountability-Prozessen involviert.
Das Interview stammt aus dem Sommer 2020. Inzwischen sind bundesweit einige Strukturen gewachsen, ein Überblick, Literaturhinweise und Aktuelles zu Transformativer Gerechtigkeit findet sich hier Das Thema verliert nicht an Aktualität, was sowohl abolitionistische Kämpfe zeigen als auch öffentlich gewordene Benennungen von sexualisierter Gewalt in der deutschen Linken wie im Fall des Sängers Monchi von Feine Sahne Fischfilet und die Suche nach einem Umgang.
Alex, du beschäftigst dich seit Längerem mit Community Accountability als Alternative zu Polizei und Justiz. Warum machst du das?
Die Beschäftigung mit dem Thema ging bei mir – wie das leider öfter vor kommt – von einem konkreten Vorfall innerhalb unserer eigenen Community aus. Oft führt Gewalt leider dazu, dass sich die betroffenen Personen aus den gemeinsamen Räumen zurückziehen müssen, weil sie sich dort unwohl fühlen oder nicht mit den gewaltausübenden Personen zusammentreffen wollen. Wir haben beschlossen, dass es so nicht weiter gehen kann, gleichzeitig war es für uns aber keine Option die Polizei zu rufen. Das ist für die Betroffenen sehr unangenehm, oft sogar schädlich, etwa wenn sie unempathisch oder sogar erneut übergriffig behandelt werden oder etwa mit dem Problem konfrontiert sind, dass man das Verfahren, wenn es einmal in Gang gekommen ist, nicht mehr beenden kann – auch wenn das dem Selbstschutz dienen würde. Dazu kommt, dass es auch für uns als Aktivist*innen gefährlich sein kann, unsere Strukturen gegenüber der Polizei offenzulegen. Wir haben also in dem Fall nach selbstorganisierten Alternativen gesucht und uns mit Community Accountability auseinandergesetzt, um die betroffene Person zu unterstützen und ihr Handlungsmöglichkeiten zurückzugeben.
Was bedeutet Community Accountability?
Die Interessen der Betroffenen stehen im Zentrum – sie sollen ihre Handlungsmöglichkeiten zurückbekommen.
Community Accountability (CA) ist ein Verfahren, in dem Menschen Konflikte selbstorganisiert bearbeiten, und zwar innerhalb ihrer sozialen Umfelder und insbesondere im Kontext zwischenmenschlicher, oft sexualisierter Gewalt. Dabei stehen die Interessen der Betroffenen im Zentrum – sie sollen ihre Handlungsmöglichkeiten zurückbekommen. Trotzdem wird versucht, statt Strafe und Ausgrenzung auf Reflexion und Verantwortungsübernahme durch die gewaltausübende Person hinzuarbeiten, um eine langfristige Ko-Existenz zu ermöglichen. Das Konzept kommt aus Schwarzen feministischen Bewegungen in den USA. Die haben angesichts eines rassistischen Polizei- und Strafjustizsystems innerhalb der eigenen Communitys Alternativen gesucht, um häusliche und patriarchale Gewalt zu bearbeiten.
Wie läuft denn so ein Community-Accountability-Prozess ab?
Community Accountability ist ein relativ offenes Konzept, kann sich im Einzelnen also stark unterscheiden, basiert jedoch auf einigen Grundprinzipien wie der Betroffenenzentrierung und der Verhalten-Personen-Trennung, die die vier zentralen Bereiche durchziehen, die in jedem CA-Prozess vorkommen sollten: nämlich die Arbeit mit den Betroffenen, die Arbeit mit den gewaltausübenden Personen, Öffentlichkeitsarbeit und Prävention sowie das Ziel gesamtgesellschaftlicher Veränderungen. Zunächst geht es darum, dass mit der oder den Betroffenen ihre Ziele, Bedürfnisse und Interessen besprochen werden. Gleichzeitig wird mit der gewaltausübenden Person gearbeitet, wobei im Vordergrund steht, die Tat von der Person zu trennen und auf Verhaltensänderungen hinzuwirken. Dafür ist es zentral, dass die Gewalt beendet, das Verhalten reflektiert und Verantwortung übernommen wird. Dazu kommt die Dimension der Öffentlichkeitsarbeit und die Prävention. Dabei steht im Zentrum, durch Öffentlichkeitsarbeit sogenanntem ‚Täterschutz‘ und Widerständen im Umfeld entgegenzuwirken und einen Veränderungsprozess in den eigenen Communitys anzustoßen um sexualisierter Gewalt und anderen Formen von Gewalt präventiv zu begegnen. Dazu kommt die Arbeit für eine gesamtgesellschaftliche Veränderung, etwa durch Podiumsdiskussionen oder Zeitungsbeiträge.
Kannst du ein Beispiel geben?
In einem Beispiel wurde ich als Moderation angefragt, wo es darum ging, dass eine Person von Online-Hate-Speech betroffen war. Die Betroffene hatte vor allem das Interesse zu verstehen, warum die Gewalt ausgeübt wurde. Im Gespräch haben die Täter dann zunächst dazu berichtet und es konnten Umgangsvereinbarungen getroffen werden. Für die betroffene Person hat das Treffen etwas gelöst und die Gewaltausübenden waren froh, dass das Problem ohne Polizei gelöst werden konnte und setzen sich hoffentlich weiter mit ihrem Verhalten auseinander. Das ist allerdings kein klassischer ‚Fall‘, sondern eher schon Teil meiner Utopie, da die involvierten Menschen dort aus anderen, weniger polizeikritischen Communitys kamen. Häufig sind Prozesse sehr langwierig und mit vielen Höhen und Tiefen verbunden.
Wie bewertest du deine bisherigen Erfahrungen insgesamt?
Ich habe bereits gute Erfahrungen mit dem Konzept gemacht. Insgesamt hat es dazu beigetragen, zwischenmenschliche und sexualisierte Gewalt in unseren eigenen Strukturen mehr zu reflektieren und emotionale Arbeit politisch zu machen und somit auch kollektiv zu verteilen. Dabei gab es erfolgreiche Fälle, in denen die Ko-Existenz ermöglicht wurde und gewaltausübende Personen nach Bearbeitung des konkreten Vorfalls aktiv Verantwortung übernommen haben. In anderen Fällen haben sich Menschen wieder aus dem Prozess zurückgezogen und es gab leider auch Widerstände und ‚Täterschutz‘ innerhalb der Community.
Wo würdest du noch nachbessern?
Strukturell ist es schade, dass es wenig langfristig etablierte Strukturen gibt, sodass Praktiken oft ausgehend von einem konkreten Vorfall entwickelt werden. Das bedeutet, dass alle bei Null anfangen müssen und es im Vergleich zum stark institutionalisierten Strafverfahren wenig Transparenz darüber gibt, was genau passieren wird. Dazu kommt der oft hohe Grad an persönlicher Involviertheit, der zwar hilfreich, aber auch emotional sehr anstrengend ist. Ich würde mir deshalb wünschen, dass es mehr etablierte Strukturen gibt, ohne den prozesshaften und flexiblen Charakter der konkreten Fallbearbeitung zu unterminieren.
Glaubst du, Community Accountability stellt allgemein eine Alternative zur Polizei dar?
Ich würde Community Accountability vor allem als eine Möglichkeit betrachten, wie selbst organisiert mit Gewalt umgegangen werden kann ohne auf staatliche Organe zurückgreifen zu müssen, die im schlimmsten Fall noch mehr Repression und Gewalt nach sich ziehen. Es ist Teilmeiner Utopie, dass alle Kontexte, Gruppen und Communities sich mit der Frage auseinander setzen, wie man mit Gewalt – in- und außerhalb der eigenen Räume - umgehen kann. Das würde auch dazu beitragen, dass man früher eingreifen könnte – bestenfalls noch bevor Gewalt entsteht.
*Alex will anonym bleiben.