
Tanz auf dem Dach
Vor anderthalb Jahren besetzten Geflüchtete die Kreuzberger Gerhart-Hauptmann-Schule. Ruben und Kaveh waren unter den wenigen Journalisten, die es während der Polizeiumstellung in die Schule schafften. Ihre Bilder und Eindrücke erzählen von einer verzweifelten Situation.
Im Dezember 2012 besetzen Geflüchtete nach einem Protestmarsch durch ganz Deutschland die Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg, um ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland zu erreichen. Sie leben dort unter äußerst prekären Bedingungen, die Kapazitäten der Gebäude sind ausgereizt. Immer mehr Menschen ziehen hinzu, niemand fühlt sich für sie verantwortlich. Durch die Kreuzberger Behörden werden sie zwar geduldet, an der Situation ändert der Bezirk jedoch wenig.
Ende Juni 2014 soll ein sogenannter „freiwilliger Umzug“ der Geflüchteten stattfinden. Der Polizeieinsatz mit Hundertschaften aus ganz Deutschland, der diesen flankiert, kostet weit mehr als fünf Millionen Euro. Die Schule wird abgesperrt, tagelang darf niemand auf das Gelände. Am ersten Juli folgt dann ein Räumungsersuchen durch einen Alleingang des zuständigen Baustadtrats des Bezirks.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt herrscht in der Ohlauer Straße in Kreuzberg Ausnahmezustand, bis die Geflüchteten letzten Mittwoch einem Kompromissvorschlag des Bezirks zustimmen. In der Einigung steht, dass die etwa 40 Geflüchteten in der ehemaligen Schule bleiben dürfen. Voraussetzung ist, dass ein Nachzug weiterer Flüchtlinge verhindert wird.
Die Fotojournalisten Ruben Neugebauer und Kaveh Rostamkhani sind zwei der wenigen Journalist_innen, die am Abend des Räumungsersuchens in der Schule waren. TONIC führte mit ihnen ein Interview über die Lage der Geflüchteten in der Schule, das Verhalten der Polizei und wie es jetzt weitergehen kann.
Skeptische Polizei, misstrauische Geflüchtete
Seit Beginn des Polizeieinsatzes Ende Juni gab es nur wenige zuverlässige Informationen über die Situation der Geflüchteten in der Schule und die Pläne der verantwortlichen Politiker. Kaveh und Ruben, ihr wolltet über die Lage der Geflüchteten berichten. Warum war dies so schwierig?
Ruben: Seit Dienstag der letzten Juniwoche durften wir nicht mehr hinter die polizeiliche Absperrung. Die Schule war bis auf zwei Häuserblöcke komplett abgeriegelt. Ab da war die Presse gezwungen, zu spekulieren, wie die Situation in der Schule ist. Spekulation ist aber kein Journalismus. Als Journalisten sind wir gezwungen, unsere Informationen zu überprüfen. Das war nicht einmal ansatzweise möglich.
Wie seid ihr trotz der Abriegelung in die Schule gekommen?
Ruben: Ich habe seit dem 25. Juni mehrfach versucht, in die Schule zu gelangen. Einmal habe ich es beinahe geschafft, wurde dann aber von Polizisten entdeckt. Ich glaube auch nicht, dass es andere Journalisten reingeschafft haben.
Kaveh: Am Dienstag haben wir Schlupflöcher durch die Absperrung der Polizei gefunden und konnten in die Schule zu den Geflüchteten gelangen.
Ruben: Da wir offiziell nicht auf das Gelände durften, mussten wir auf eine Möglichkeit warten und einfach losrennen. Wir konnten nicht sehr sensibel vorgehen, uns zum Beispiel erst vorstellen und fragen, ob wir die Schule betreten dürfen. So war es schwierig, Vertrauen zu den Geflüchteten aufzubauen.
Wie haben die Geflüchteten in der Schule auf euch als Journalisten reagiert?
Ruben: Dadurch, dass die Presse offiziell keinen Zugang zur Schule hatte, wurde auch der Zugang zu den Menschen dort erschwert. Am Dienstag eine Woche zuvor war das Verhältnis zwischen Journalisten und Geflüchteten besser. Sie waren sich sicher, dass es in ihrem Interesse ist, dass Presse vor Ort ist und berichtet. Sie haben uns gebeten zu kommen. Die Situation war noch nicht so verfahren. Journalisten in der Schule zu haben, bedeutete da für die Geflüchteten auch Schutz.
Kaveh: Eine Woche später sah die Situation für mich ganz anders aus. Die Geflüchteten waren sehr skeptisch und hatten Angst, dass ich ein Zivilpolizist bin. Sie gingen davon aus, dass, wenn ich es durch die Absperrung der Polizei geschafft hatte, ich irgendwie mit ihnen zusammenarbeiten musste. Einer hat sogar mein Handy durchsucht. Wahrscheinlich, um zu überprüfen, ob ich Kontakt zur Polizei habe. Es herrschte ein großes Misstrauen, die Nerven lagen blank.
Es geht um Leben und Tod
Wie war die Wohnsituation in der Schule?
Ruben: Die Situation war sehr chaotisch, weil niemand wusste, wie es weiter geht. Die Lage war permanent angespannt, es war eine Art Notgemeinschaft geworden. Auch wenn in der Schule selbst nicht viel passiert ist, war permanente Wachsamkeit gefordert. Es gab auch immer etwas zu tun, einige haben sich um das Essen gekümmert, andere haben versucht, die Polizei in Blick zu behalten und die Eingänge verbarrikadiert.
Kaveh: Das Tanzen auf dem Dach war fast die einzige Möglichkeit, sich abzureagieren. An Ausruhen war angesichts der drohenden Räumung nicht zu denken. Die Geflüchteten waren gewissermaßen in der Schule gefangen. Auch wenn sie das Gebäude besetzt hatten, durften sie es nicht mehr verlassen und waren dort isoliert. Die Lage war in jeder Hinsicht unberechenbar.
Durch was wurde die Lage so angespannt?
Kaveh: Als wir in der Schule waren, hatten wir keine Informationen von draußen, denen wir sicher vertrauen konnten. Von Unterstützer_innen von draußen haben wir auch nicht mehr erfahren, als wir auf Twitter lesen konnten. Ständig gab es neue Zeitpunkte, zu denen angeblich eine Räumung stattfinden sollte.
Ruben: Wir hingen in der Luft und wussten nicht, was passieren würde. Für uns hat es letztendlich nur eine schlaflose Nacht bedeutet. Schon nach dieser einen Nacht haben wir gemerkt, wie zermürbend die Ungewissheit ist. Die Geflüchteten, für die Existenzielles auf dem Spiel stand, mussten schon eine Woche in dieser Situation leben. Einige waren kurz vor dem Zusammenbruch, teilweise ging es um Leben und Tod.
Kaveh: Auch auf bezirkspolitischer Ebene hat der Alleingang des Baustadtrats Panhoff zu Verwirrung und mehr Anspannung geführt. Andere Politiker_innen, die direkt mit den Geflüchteten verhandelt haben, fühlten sich deswegen hintergangen. Durch die Aktion Panhoffs war ihre Glaubwürdigkeit beschädigt und das Vertrauen der Geflüchteten in sie gesunken.
Leittragende sind die Geflüchteten
In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch habt ihr die Schule verlassen. Was ist passiert?
Ruben: In der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch, in der die Schule morgens geräumt werden sollte, wurden alle Journalisten und auch die Anwälte der Geflüchteten gebeten, zu gehen. Die Begründung war ihre und unsere Sicherheit. Viele der Geflüchteten waren bereit, bis zum Äußersten zu gehen.
Kaveh: Der Stress war sehr groß. Zu den anwesenden Journalisten wurde gesagt: „Ihr könnt auch einmal die Kamera weglassen und draußen für uns demonstrieren. Das hilft uns mehr“. Es war für sie nicht mehr eindeutig, dass die Berichterstattung der Journalisten im Interesse der Geflüchteten ist.
Was war die Rolle von Journalisten in diesen Tagen?
Kaveh: Ich finde, dass sich nicht alle Journalisten ganz richtig verhalten haben. Das Interesse an der Schule kam erst auf, als es zu dem großen Polizeieinsatz und damit zur Sensation kam. Vorher haben sich ganz wenige um die Situation der Geflüchteten gekümmert.
Ruben: Da würde ich dir nicht ganz zustimmen. Ich war schon vor einigen Monaten da, um die Leute erst mal ohne Kamera kennenzulernen. Es gab auf jeden Fall einige Journalisten, die sich schon vorher dafür interessiert haben. Das mediale Interesse hat sich aber leider oft auf die Probleme konzentriert. Die eigentlichen Interessen der Geflüchteten kamen zu kurz, nur zugespitzte Geschichten wurden gedruckt.
Wie habt ihr die Einsatzkräfte erlebt?
Kaveh: Nach einer Woche Einsatz war auch die Polizei kaputt. Man hat gemerkt, dass die Einsatzkräfte sich in der Situation nicht wohlgefühlt haben. Die ganze Woche war ein politisches Spiel in der Hauptstadt, auch unter Missbrauch der Polizei. Das Spiel wurde perfide auf dem Rücken der Geflüchteten ausgetragen.
Wie konnte es eurer Meinung nach zu dieser verfahrenen Situation kommen?
Kaveh: Niemand möchte Verantwortung für Geflüchtete übernehmen, alle schieben sie weiter, da sie selbst gut dastehen wollen. Die Ereignisse sind eine Art Kreuzberger Exempel dafür, wie auch auf Bundesebene mit Geflüchteten umgegangen wird.
Ruben: Die Verantwortung wurde immer an andere abgegeben. Der Protest der Geflüchteten hat sich eigentlich an die Bundesebene gerichtet und ist am Ende auf Bezirksebene gelandet. Die Politiker_innen wollten keine Entscheidung treffen. Der Protest wurde geduldet, es wurde sich aber nicht darum gekümmert, dass er in einer menschenwürdigen Umgebung stattfinden kann.
Was ist eure Einschätzung zu der aktuellen Situation? Ist die Einigung zufriedenstellend?
Ruben: Wenn Berlin ein Magnet für Geflüchtete ist, muss man dafür Lösungen finden und nicht die Verantwortung weiter schieben, vom Bezirk zum Senat, der wiederum den Bezirk und den Bund verantwortlich sieht. Man hätte den Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes anwenden können und in der Hauptstadt einen Präzedenzfall schaffen können. Leider haben aber viele Politiker daran mitgewirkt, dass keine Lösungen im Sinne aller gefunden werden konnten.
Kaveh: Die Einigung ist meiner Meinung nach nicht zur Zufriedenheit aller. Es wurde nie mit den Geflüchteten auf Augenhöhe verhandelt. Die Verhandlungslage der Geflüchteten war in etwa: Entweder stimmt man einer Einigung zu oder manche springen im äußersten Fall vom Dach. Die Bedürfnisse der Geflüchteten sind sehr vielfältig und lassen sich nicht einfach mit einer Konsenslösung befriedigen. Damit die Vereinbarung zwischen dem Bezirksamt und den Geflüchteten erfolgreich umgesetzt werden kann, ist ein echter Dialog nötig.