
Stadt der Gesichtslosen
In einer Industrieruine im französischen Calais leben illegalisierte Menschen. Flüchtlinge aus Afrika, die auf ihrem Weg nach Großbritannien hier stranden. Ohne Papiere, ohne Geld und ohne Rechte. Der Fotograf Chris Grodotzki hat sie zwei Wochen lang begleitet.

Willkommen in Calais – Der Stadt der Gesichtslosen. Hocksha ist einer von vielen hundert sogenannten „illegalen Immigranten“, die auf ihrer Reise in Calais, dem Tor nach Großbritannien, hängengeblieben sind. Während er in der Einfahrt des „African Squat“ (Squat = besetztes Gebäude/Gelände) , einer von afrikanischen Flüchtlingen bewohnten Industrieruine, Wache steht, bereiten seine Mitbewohner das gemeinsame Abendessen vor.

Zeugen der Solidarität: eine Hand voll Aktivisten aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Belgien. Sie nennen sich „Calais Migrant Solidarity“ und kommen regelmäßig nach Calais, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Manche hinterlassen Spuren.

Die meisten Bewohner des African Squat sind junge Männer, zwischen 15 und 25, aus den Krisenherden des Sudan und Eritrea. Den Tag über hängen sie meist im Squat oder den Parks von Calais herum und ruhen sich aus. Nachts geht’s an den Hafen, wo sie wieder und wieder versuchen, unter LKWs nach England überzusetzen. Dort sind die Asylgesetze noch vergleichsweise human.

Es ist Ramadan. Jeden Abend holen sich die Afrikaner ihre Ration Essen bei der Hilfsorganisation „Salam“ ab und bringen sie in den Squat. Dort wird zusammen gekocht und gegen neun Uhr abends gemeinsam das Fasten gebrochen. Trotz ihrer schwierigen Lage halten viele der muslimischen Flüchtlinge die Fasten- und Gebets-Regeln streng ein.

Sie alle wirken viel älter, als sie sind. Ihre oft ernsten Mienen kann man ihnen nicht verdenken. Wer aus Krisengegenden wie Darfur im Sudan oder der Diktatur Eritrea kommt, hat vieles erlebt und wenig zu lachen gehabt. Nur beim Fußball oder Kartenspielen bricht manchmal ihre Jugend und Lebensfreude durch.

Der African Squat wirkt wie ein Drittwelt-Slum mitten in Europa: kein fließend Wasser, keine Toiletten, keine medizinische Versorgung und kaum Hilfe in Sicht. Wie in vielen europäischen Ländern ist es auch in Frankreich illegal, Flüchtlinge zu unterstützen. Nimmt man beispielsweise einen „Illegalen“ im Auto mit oder gibt ihm eine Unterkunft, kann dies als „Beihilfe zur illegalen Einreise“ verfolgt werden.

Wie Katz und Maus – mit einer gehörigen Portion Galgenhumor malt Amin den Tom-Und-Jerry-Vergleich an die Wand. Und der ist treffend: Als „Sans Papiers“ (franz. für „Papierlose“) lebt man ein Leben auf der Flucht. Fällt man den Behörden in die Hand, drohen, je nach Land der Festnahme, Schikane oder gar Abschiebung. Wer in Europa keine Papiere hat, lebt ständig mit der Gefahr, festgenommen und abgeschoben zu werden.

Omar ist gerade erst 17. Er ist aus dem Sudan geflohen, nachdem paramilitärische Milizen seine Eltern regelrecht hingerichtet hatten. Wenn er es nach England schafft, will er Asyl beantragen, seine Schule beenden und danach studieren, um irgendwann wieder in den Sudan zurückzukehren und dort etwas bewirken zu können.

In den hinteren Baracken haben die Bewohner des African Squat sich einen gemeinsamen Schlafraum zurechtgemacht. Er ist einer der wenigen halbwegs intakten Räume und mit ausreichend Fluchtmöglichkeiten versehen. Der Rest des Squats gleicht, dank fehlender Müllabfuhr, eher einer Müllhalde.

Pünktlich zum Abendessen – der einzigen Mahlzeit des Tages im Ramadan – stürmt die französische Bereitschaftspolizei-Einheit CRS den Squat. Beinahe täglich führt die Polizei überfallartige Razzien an den bekannten Aufenthaltsorten der Flüchtlinge durch, um ihnen das Leben in Calais möglichst unbequem zu machen.

Binnen Sekunden sind die „Illegalen“ in alle Richtungen verschwunden. Sie lassen alles stehen und liegen, denn wer der Staatsmacht in die Hände fällt, wird festgenommen und darf die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen.

Wer erwischt wird, muss hungern. Kurz vor der einzigen Mahlzeit am Tag festgenommen, gibt’s die Nacht über im Knast nichts zu essen, und am nächsten Morgen muss wieder gefastet werden. Die Polizei weiß das und rückt genau deshalb zur Abendessenszeit an.

Für eine halbe Stunde nach jeder Razzia wirkt der African Squat wie eine Geisterstadt. Dann kommen die Flüchtlinge langsam zurück: von den Dächern, aus Seitenstraßen und über die Brachflächen hinter dem Industriekomplex. Verstecke gibt es – im Gegensatz zu allem anderen – genug.

Ein Hinweis an die Polizisten. Einige von ihnen hatten vor Wochen den zweiten Schlafraum der „Sans Papiers“ mit Urin, Pfefferspray und altem Maschinenöl verseucht und unbewohnbar gemacht.

Diesen Abend stürmt die Polizei gleich drei Mal von verschiedenen Seiten in den Squat. Beim dritten Mal erwischt sie Karim. Auf den Brachflächen hinter dem Squat erwarteten ihn drei Polizisten und stoppten ihn auf seiner Flucht kurzerhand mit dem Knüppel.
(Der Fotograf Chris Grodotzki hat den African Squat im Sommer 2010 besucht und zwei Wochen das Leben der Flüchtlinge dort begleitet. Im Juni 2011 wurde der African Squat von der Polizei endgültig geräumt.)
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Chris Grodotzki
FotografChris ist Fotograf und Aktivist, hat sein Büro in Berlin, ist dort aber kaum anzutreffen, da meist unterwegs.