
Die scheinbar perfekte Demokratie und der Rassismus
Jorge María Londoño erzählt über das koloniale Erbe Schwedens – ein Land, das Londoño einst abgeschoben hat. Der Tod von George Floyd und die anschließenden Proteste haben gezeigt, dass in der modernen Demokratie doch nicht alles so perfekt ist, wie es scheint. Londoño hofft auf eine neue Bewegung.
„Ich erinnere mich, dass ich wieder in Schweden in die Schule kam und Angst hatte, darüber zu sprechen, was mir in den Sommerferien passiert ist“, erzählt Jorge María Londoño. Es war der Sommer 2003, alle Freunde plauderten fröhlich über ihren Urlaub auf Mallorca oder in Florida. „Ich war auch in Florida, aber in einem Transitzentrum für Asylsuchende.“

Jorge María Londoño
Jorge María Londoño hat dunkles, gewelltes Haar, das fast bis zur Schulter reicht, und trägt ein lockeres schwarzes T-Shirt. Obwohl wir eigentlich über schwierige Dinge sprechen, schwindet Londoños Lächeln nicht aus dem Gesicht. Londoño stammt aus Cali, „der Hauptstadt der Salsa“, wo das Leben voller kraftvoller Up-Tempo-Musik und sozialem Razzle-Dazzle ist. Londoños Großmutter kämpfte in Kolumbien gegen kriminelle Syndikate. Wegen der politischen Situation und der Gewalt floh sie Ende der achtziger Jahre nach Schweden. Im Jahr 2000 kamen ihre Tochter und ihre beiden Enkelkinder hinzu. „Drei Jahre später wurde ich abgeschoben, weil mein Asylantrag abgelehnt worden war“, erzählt Londoño.
Vor fast genau 17 Jahren, einige Monate nach der Abschiebung, durfte Londoño schließlich doch nach Schweden zurückkehren. Die Behörden hatten ihre Entscheidung geändert. Diese Erfahrungen prägen Londoño bis heute. Seit dem dreizehnten Lebensjahr setzt sich Londoño gegen Rassismus in Schweden ein, seit 2014 in der Initiative Jugend gegen Rassismus (Ungdom mot rasism/UMR), einer der prominentesten schwedischen Organisationen dieser Art. Seit 2018 ist Londoño im Vorstand.
Der blau-gelbe Traum

„Dass man gegen diese Scheiße auch noch protestieren muss“ – Black-Lives-Matter-Demo am Sergels torg
Das Leben „nach George Floyd“ ist anders in Schweden. Die Tatsache, dass Rassismus hier überhaupt existiert, wurde einigen erst nach dem Tod des Afroamerikaners in Minneapolis klar. Selbst das Wort weiß wurde hier vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal in Bezug auf race* verwendet. Das Land hat schon lange seinen blau-gelben Traum: Jede, die oder der im Wohlfahrtsstaat lebt, wird es schaffen. Ungleichheit entlang von *race passte einfach nicht in die Denkweise der Menschen, die „in einer so beispielhaften modernen Demokratie“ leben, so Londoño.
Anfang Juni versammelten sich Tausende unter dem Motto „Black lives matter“ (BLM) am Sergels torg im Zentrum von Stockholm. Auch in Göteborg und Malmö, den beiden nächstgrößeren Städten, gingen die Menschen auf die Straße. „Zum ersten Mal in unserer Geschichte sind wir an einem Punkt angelangt, an dem einen Konflikt haben, durch den der Rassismus offensichtlich wird“, sagt Jorge María Londoño. Londoño macht ein kurze Pause und sagt: „Hautfarbe wurde zu einem polarisierenden Faktor.“
Die Organisation Jugend gegen Rassismus besteht seit 1996 und war eine der ersten ihrer Art in Schweden. 2018 machte sie einen Neustart. „Queerer, feministischer“ sollte sie werden. Auch Londoño setzt sich aktiv für LGBT-Rechte ein, beschreibt sich selbst als nicht-binär/trans und zieht es vor, als ‚sie‘ (wie im Englischen ‚they/them‘) bezeichnet zu werden. Inzwischen hat der Verband rund 750 Mitglieder und fünf lokale Gruppen, unter anderem in Stockholm, Göteborg und Växsjö in Südschweden, wo Jorge María Londoño derzeit lebt.
Sklavenhandelsparadies in der Karibik
Die eigene koloniale Vergangenheit hat Schweden nicht aufgearbeitet. Seine Kolonie Saint-Barthélemy war Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein wichtiger Ort für den Sklavenhandel in der Karibik. Im Gegensatz zu vielen anderen Inseln gab es dort nie Zuckerrohrplantagen oder Tabak, der exportiert werden konnte. „Es war kein sehr profitables Stück Land“, erklärt Londoño. Also schufen die Behörden ein Steuerparadies, damit andere Nationen dort problemlos Sklavenhandel betreiben konnten. Schweden war eines der letzten Länder Europas, das 1847, etwa 14 Jahre nach Großbritannien, die Sklaverei abschaffte. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde seine Insel in der Karibik an Frankreich verkauft.
Muss Carl von Linné dran glauben?
Die BLM-Proteste in jüngster Zeit haben nicht nur der Verhandlung des kolonialen Erbes eine neue Dynamik verliehen, sondern auch der Debatte über historische Figuren. Im Juni landete die Statue des britischen Sklavenhändlers Edward Colston unter dem Jubel der Demonstranten im englischen Bristol als eine der ersten in Fluß Avon. Kurz darauf forderte die schwedisch-gambische Aktivistin Lovette Jallow die Entfernung der Denkmäler für Carl von Linné in Stockholm. „Tut es einfach!“ schrieb sie auf Twitter.
Ist der berühmte schwedische Wissenschaftler als Nächster dran? Schließlich teilte er die Menschen in Rassenkategorien ein. Londoño will das nicht beantworten.
Sind die Schweden für Linnés Erbe mitverantwortlich? Ja, gewiss. „He’s on our bill“, sagt Londoño. Das ist die Rechnung, die einfach bezahlt werden muss. Egal, was Linnés Verdienste waren: Er hat nicht nur Blumen klassifiziert, sondern auch Schädel vermessen und Menschen nach Hautfarben beschrieben.
„Ein typischer Fall von Opferbeschuldigung“
Mehr als ein Viertel aller schwedischen Bürger haben heute ein ausländisches Erbe – darunter etwa 350.000 Afro-Schweden. Die meisten von ihnen sind in den letzten 50 Jahren ins Land gekommen. Jorge María Londoño weiß aus eigener Erfahrung und der Arbeit bei UMR, dass viele von ihnen täglich mit strukturellem Rassismus konfrontiert sind.
Laut Raschid Musa, einem Aktivisten in Stockholm, stammten zu Beginn der Coronavirus-Pandemie 9 der 15 gemeldeten COVID-19-Todesfälle in Schweden aus der somalischen Gemeinschaft. Dies löste sofort Schuldzuweisungen aus: Die Somalier seien nicht integriert, verfolgten weder den Nachrichten noch folgten sie den Anweisungen der Behörden.
„Das ist ein typischer Fall von Opferbeschuldigung“, meint Londoño. In Wirklichkeit leben viele von ihnen in kleineren Wohnungen. Sie haben Jobs im Niedriglohn-Sektor und können es sich nicht leisten, von zu Hause aus zu arbeiten. Hinzu kommt, dass oft mehrere Generationen an einem Ort zusammengedrängt sind, was ebenfalls zu höheren Infektionsraten führt.
BLM-Mitglieder als Anarchisten dagestellt
Die aktuellen schwedischen Parlamentsdebatten tragen nicht zur Lösung der Probleme bei. Sie konzentrieren sich vor allem darauf, ob die Migrationspolitik, die das Land seit 2015 verfolgt, beibehalten werden soll. „Die konservativen Parteien wollen, dass der restriktive Kurs fortgesetzt wird“, sagt Londoño. Die Sozialdemokraten bestehen darauf, dass schwedische Arbeitnehmer vor Dumping geschützt werden müssen.
Und die Schwedendemokraten – eine Partei, die aus einer nationalistischen Bewegung namens Bevara Sverige Svenskt („Schweden soll schwedisch bleiben“) hervorgegangen ist – haben eine starke Rhetorik gegen die BLM-Bewegung entwickelt. Sie erinnert an die Gefolgschaft von Donald Trump in den USA. „Sie bezeichnen die Black-Lives-Matter-Mitglieder als Anarchisten und stellen sie so dar, als wollten sie die Polizei abschaffen“, beklagt Londoño.
Infrage stellen, dass Unterschiede Probleme schaffen
Gibt es überhaupt Aussichten? Londoño hält erst inne und beugt sich dann entschlossen vor: „Wir müssen eine neue Bewegung für soziale Gerechtigkeit des 21. Jahrhunderts ins Leben rufen.“ Eine Bewegung, die von der Generation angetrieben wird, die des Status quo überdrüssig ist. „Ich denke an den Arabischen Frühling, an #MeToo, an die sozialistischen Revolutionen in Südamerika, an die Proteste in Hongkong und die Bewegung für Klimagerechtigkeit.“
Zusammen mit einigen Freunden hat Jorge María Londoño bereits eine soziale Plattform für Queers geschaffen, die Islamfeindlichkeit ablehnen. Die Initiative setzt sich auch für die Vernetzung von Muslimen ein, die mehr über LGBTQ+ wissen wollen. „Wenn Menschen sich in Koalitionen organisieren, die es vorher noch nie gegeben hat, stellen wir den Glauben in Frage, dass Unterschiede Probleme schaffen.“
(*) Ich verwende den englischen Begriff race anstatt des deutschen Begriffs Rasse, da die beiden Begriffe unterschiedliche Bedeutungsgeschichten mit unterschiedlichen Konnotationen haben. Während der deutsche Begriff historisch so belastet ist, dass er kaum mehr verwendet wird, ist das Konzept race historisch und gegenwärtig eng verwoben mit „Kämpfen gegen soziale Ungleichheit und rassistische Diskriminierung“. In den angloamerikanischen Human- und Sozialwissenschaften wird race heute weitestgehend als soziale Konstruktion verstanden und kritisch reflektiert.
Redaktion: Louka Maju Goetzke und Fabian Stark