
Ohne Limit
Vorsichtig schlucke ich die ersten 50 Milligramm Modafinil. Es ist kurz nach Mitternacht, ich bin müde. Seit Stunden arbeite ich an meiner Thesis. Ärzte verschreiben Modafinil an Narkoleptiker. Es unterdrückt Müdigkeit und steigert die kognitive Leistung. Genau das will ich. Das brauche ich jetzt.
Ich muss mit meiner Thesis vorankommen, eine Hausarbeit muss fertig werden, mindestens zehn Bewerbungen will ich auch noch schreiben. Vielleicht habe ich mir zu viel vorgenommen. Ich spüre die Panik in mir aufsteigen.
In den USA ist das Medikament Modafinil frei zugänglich. Etwa fünf Prozent der Wissenschaftler und Studenten dort schlucken bereits regelmäßig „Smart Drugs“. Die Drogen fördern die Konzentration, verbessern die Erinnerung, erhöhen die Kreativität, unterdrücken das Schlafbedürfnis und impulsive Reaktionen. Kurz: Im Idealfall mutiert der Mensch damit temporär zur Maschine.
Angestrengt tippe ich auf meiner Tastatur. Ich spüre immer noch nichts und nehme weitere 50 Milligramm. Eine halbe Stunde später ertönt ein Tinitus in meinem rechten Ohr, im hinteren Bereich meiner Augen steigt der Druck. Meine Augäpfel fühlen sich dadurch an wie metallene Kugeln. Ich schreibe weiter. Die Gedanken sind klar. Dafür gleicht meine Kehle einer zehn Kilometer langen Durststrecke. Der Beipackzettel informiert über mögliches Herzrasen, Leberversagen, Depression und epileptische Anfälle. Um zwei Uhr ist meine Müdigkeit komplett verflogen. Abgesehen von meiner Wachheit ist mir keine Veränderung meines Bewusstseins aufgefallen.
Fast jeder will irgendwie besser werden, effizienter arbeiten und besser leben. Dafür wird Yoga in der Mittagspause gemacht oder eben eine Pille eingeschmissen. Ich habe oft Angst, etwas nicht zu schaffen und Erwartungen nicht zu erfüllen. Um dieses Gefühl loszuwerden, würde ich im Moment fast alles machen.
Um drei Uhr habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Erst jetzt merke ich: Da ist mehr als nur Wachsein. Wie aus einer Pistole schießen mir die Wörter aus den Fingern. Es sind keine neuen Wörter, aber mein Hirn funktioniert einfach besser. Die Wirkung ist sehr subtil. Meine Gedanken sind zwar die gleichen, aber anders strukturiert. Musik ist mir während des Schreibens eigentlich sehr wichtig: Sobald sie mir nicht mehr gefällt, muss ich sie ändern, sonst kann ich nicht weiterschreiben. Jetzt ist sie mir gleichgültig, ich höre sie nicht einmal mehr. Die Außenwelt ist dumpf. Überhaupt habe ich eine Art Tunnelblick. Das Medikament zwingt mich jedoch nicht zum Schreiben. Ich habe den Eindruck, dass ich genauso gut mein Bücherregal umsortieren könnte. Es wäre mir gleichgültig. Hauptsache, fokussiert.
Für den Philosophen Byung-Chul Han sind leistungssteigernde Mittel eine logische Konsequenz: Die Leistungsgesellschaft werde schließlich von dem Modalverb Können dominiert. Im Gegensatz zu ihr steht die Disziplinargesellschaft, in der Verbote ausgesprochen werden und das Modalverb Sollen vorherrsche. Das Sollen stößt jedoch ab einem bestimmten Punkt in der Produktivität an seine Grenze. Um die Produktivität dennoch zu steigern, wird es durch das Können ersetzt. Und der Ausgebeutete, so Han, werde ohne Peitsche und Befehl zum Ausbeuter seiner selbst.
Mein Kopf explodiert. Es ist 14.00 Uhr. Meine Gedanken kreisen lahm um die gestrige Nacht. Ich bin müde, fühle mich ausgelutscht und kann mich partout nicht konzentrieren. Letzte Nacht lernte ich ein neues Ich kennen. Irgendwie bin ich enttäuscht. Es war nicht intelligenter oder kreativer als mein nüchternes Ich. Es war das Gegenteil davon, was mich ausmacht: emotionslos, robotorhaft, starr. Ich kann mit der Pille stumpf und gleichgültig Leistung bringen. Was ich mit ihr nicht kann: An eigene Grenzen stoßen und etwas wirklich Gutes schreiben.