Nabil schlug sich ganz alleine bis in die Slowakei durch. Er hatte die Schengengrenze bereits hinter sich, als er auf seinem Weg in die Schule von slowakischen Grenzpolizisten verhaftet und direkt in die Ukraine zurückgeschoben wurde. Die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen bekam er nicht, obwohl das Europäische Recht dies vorsieht. Jetzt soll er zurück nach Afghanistan.

Es ist noch nicht lange her, dass Nabil durch die dichten, hügeligen Wälder Transkarpatiens schlich, um eines Nachts heimlich die Schengengrenze zu überqueren. Die Grenzlinie, bestehend aus einer Kombination von Bewegungsmeldern, Wärmebildkameras, Detektorkabeln und anderen Dingen, von denen George Orwell nur hätte träumen können, hatte Nabil schon hinter sich. Er hatte es geschafft, er hatte den Eisernen Vorhang 2.0 passiert, er war im Westen, in der Europäischen Union! Der schwierigste Teil des Weges war geschafft – so glaubte er. Doch dann wurde Nabil gemeinsam mit einer Gruppe jugendlicher Flüchtlinge von der slowakischen Grenzpolizei aufgegriffen. Jetzt sitzt er im Abschiebegefängnis von Tschop, einem ukrainischen Militärposten im Dreiländereck zwischen der Ukraine, Ungarn und der Slowakei.

Grenzschutz im ukrainischen Uzghorod

Grenzschutz im ukrainischen Uzghorod

Wir treffen Nabil bei der Migrationsbehörde der Grenzstadt Uzhgorod. Zwei ukrainische Grenzsoldatinnen führen ihn und einige andere minderjährige Afghanen zu einem Verhör vor. Nabil, der sagt, dass er 16 Jahre alt ist, ist der Älteste der Gruppe, die anderen Jungs sind vielleicht 12 oder 14. Es ist schwer zu schätzen, die meisten von ihnen sehen erwachsener aus, als sie sind. Das Erlebte hat sie gezeichnet.

Schule oder Taliban?

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Nabil ist alleine aus Afghanistan geflohen. Seine Eltern sind 2001 während des Krieges umgekommen, er war damals sechs Jahre alt. Nach dem Tod seiner Eltern lebte er bei seinem Onkel, der ist bei den Taliban. Nabil wollte zur Schule gehen, doch sein Onkel wollte, dass er ihm beim Drogenschmuggel hilft. Als Nabil sich weigerte, drohte der Onkel damit, ihn umzubringen.

Nabil nahm daraufhin mehrere Tausend US-Dollar seines Onkels und machte sich unbemerkt aus dem Staub. Mit dem Geld bezahlte er Menschen, die ihn mit dem Auto über Kabul Richtung Westen mitnahmen.

6000 Kilometer sind es von Uzhgorod bis Kabul. Die komplette Strecke über Usbekistan, Kasachstan, Russland und die Ukraine hat sich der Sechzehnjährige alleine durchgeschlagen, viele Wochen hat er im Auto verbracht, über staubige Pisten, meistens bei Nacht. Einige Grenzen hatte er bereits passiert, als EU-Beamte seine Flucht vorerst stoppten.

Kameras in der Nähe des Grenzübergangs Ubla. Mit einem hochtechnisierten Überwachungssystem, dem sogenannten „virtual fence“, sichert die EU hier ihre Außengrenze gegen Flüchtlinge auf dem Weg in den Westen. Ein Eiserner Vorhang 2.0.

Kameras in der Nähe des Grenzübergangs Ubla. Mit einem hochtechnisierten Überwachungssystem, dem sogenannten „virtual fence“, sichert die EU hier ihre Außengrenze gegen Flüchtlinge auf dem Weg in den Westen. Ein Eiserner Vorhang 2.0.

Die Software, die hinter diesen Kamerapfosten steckt, ist dazu in der Lage, menschliche Bewegungen von anderen zu unterscheiden. Gekoppelt mit speziellen Detektorkabeln in der Erde gibt es kaum einen Fehlalarm.

Die Software, die hinter diesen Kamerapfosten steckt, ist dazu in der Lage, menschliche Bewegungen von anderen zu unterscheiden. Gekoppelt mit speziellen Detektorkabeln in der Erde gibt es kaum einen Fehlalarm.

Fast geschafft! Dieser Feldweg führt direkt in die Europäische Union. Im Hinterland wartet jedoch jede Menge Überwachungstechnik. Wärmebildkameras beispielsweise, mit einer Reichweite von bis zu 15 Kilometern.

Fast geschafft! Dieser Feldweg führt direkt in die Europäische Union. Im Hinterland wartet jedoch jede Menge Überwachungstechnik. Wärmebildkameras beispielsweise, mit einer Reichweite von bis zu 15 Kilometern.

Die aufgewühlte Erde war zu Sowjetzeiten dazu gedacht, Fußspuren sichtbar zu machen. Heute dient sie lediglich als Bluff.

Die aufgewühlte Erde war zu Sowjetzeiten dazu gedacht, Fußspuren sichtbar zu machen. Heute dient sie lediglich als Bluff.

Mit solchen Jeeps erreichen slowakische Grenztruppen nach eigenen Angaben innerhalb von zehn Minuten jeden Punkt der Grenze. Sie waren es auch, die Nabil eines Nachts verhaftet haben.

Mit solchen Jeeps erreichen slowakische Grenztruppen nach eigenen Angaben innerhalb von zehn Minuten jeden Punkt der Grenze. Sie waren es auch, die Nabil eines Nachts verhaftet haben.

Die Armbinde dieses österreichischen Austauschpolizisten zeigt das Logo der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Flüchtlinge wie Nabil sind für sie in erster Linie ein „Gefährdungspotential“.

Die Armbinde dieses österreichischen Austauschpolizisten zeigt das Logo der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Flüchtlinge wie Nabil sind für sie in erster Linie ein „Gefährdungspotential“.

Ein Bus mit Gefangenen passiert die Einfahrt des berüchtigten Flüchtlingsgefängnisses im Militärposten Tschop. Auch Nabil wurde direkt zurück in die Ukraine abgeschoben und hierher gebracht, nachdem er in der Europäischen Union aufgegriffen wurde. Eine Möglichkeit Asyl zu beantragen bekam er nicht.

Ein Bus mit Gefangenen passiert die Einfahrt des berüchtigten Flüchtlingsgefängnisses im Militärposten Tschop. Auch Nabil wurde direkt zurück in die Ukraine abgeschoben und hierher gebracht, nachdem er in der Europäischen Union aufgegriffen wurde. Eine Möglichkeit Asyl zu beantragen bekam er nicht.

Im Lager ist Nabil mit massiver Korruption konfrontiert. Egal, ob es um Zigaretten oder eine Übersetzung geht – immer wieder kassieren die Bewacher ab.

Im Lager ist Nabil mit massiver Korruption konfrontiert. Egal, ob es um Zigaretten oder eine Übersetzung geht – immer wieder kassieren die Bewacher ab.

Die EU hat zwar einen neuen Sportplatz spendiert, betreten durfte ihn Nabil aber noch nie.

Die EU hat zwar einen neuen Sportplatz spendiert, betreten durfte ihn Nabil aber noch nie.

Die Behörde für Migration in Uzhgorod. Hier erfährt Nabil, dass er nach Kabul abgeschoben werden soll.

Die Behörde für Migration in Uzhgorod. Hier erfährt Nabil, dass er nach Kabul abgeschoben werden soll.

Nabil im Warteraum der Migrationsbehörde in Uzhgorod. Kurze Zeit später erfährt er von seiner geplanten Abschiebung.

Nabil im Warteraum der Migrationsbehörde in Uzhgorod. Kurze Zeit später erfährt er von seiner geplanten Abschiebung.

Nabil schaut aus einem Fenster im Gefängnis Tschop. Die Fassade ist frisch verputzt, doch hinter dem neuen, EU-finanzierten Anstrich verbergen sich massive Probleme. Die Flüchtlinge sind mit Rassismus und Korruption konfrontiert. Eine Perspektive hier gibt es nicht.

Nabil schaut aus einem Fenster im Gefängnis Tschop. Die Fassade ist frisch verputzt, doch hinter dem neuen, EU-finanzierten Anstrich verbergen sich massive Probleme. Die Flüchtlinge sind mit Rassismus und Korruption konfrontiert. Eine Perspektive hier gibt es nicht.

Eigentlich sollte Nabil gar nicht hier sein. Jeder Flüchtling bekomme die Möglichkeit, in der Slowakei einen Asylantrag zu stellen, versichert Jan Vinc, ein leitender Offizier der slowakischen Grenzpolizei. Nabil steht nun aber hier vor uns und seine Erzählungen klingen plausibel, zumal auch andere Flüchtlinge immer wieder bestätigen, dass sie aus der Slowakei abgeschoben wurden, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen – darunter nicht wenige Minderjährige.

Nabil wirkt aufgeweckt, er spricht verhältnismäßig gutes Englisch. Sogar ein bisschen Russisch hat er sich unterwegs selbst beigebracht, so kann er manchmal für die anderen Jungs im Gefängnis übersetzten. Im Gefängnis gibt es nämlich keine Übersetzer. Nur gegen Geld, erzählt Nabil. Die Korruption ist hier allgegenwärtig, egal ob es um Zigaretten, Übersetzer, Papiere, oder die Entlassung aus der Abschiebehaft geht, für alles mögliche werden den Flüchtlingen hier Gebühren auferlegt, die es offiziell gar nicht gibt.

Die Baracken im Gefängnis von Tschop, wo Nabil und die anderen Jungs interniert sind, sind frisch verputzt. Sie sehen besser aus als manche Asylbewerberunterkunft in Deutschland, es gibt sogar einen nagelneuen Sportplatz. Nachdem die Zustände im Lager in Folge von Medienberichten international für Kontroversen sorgten, wurde das Gefängnis mit Mitteln der Europäischen Nachbarschaftspolitik von der EU saniert. So teilen sich jetzt nur noch zehn Flüchtlinge eine Zelle und nicht wie früher 50. Auch eine Klimaanlage hat die EU springen lassen, doch hinter dem neuen Anstrich sind die alten Probleme geblieben.

Auf den nagelneuen Sportplatz konnte Nabil nie.

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Nabil kennt nicht einmal seine Zellennachbarn. Die Zimmer bleiben immer verschlossen, erzählt er uns, “wenn man aufs Klo möchte, muss man klopfen, und die Soldaten lassen sich dann schon mal Zeit.” Zu Essen gibt es jeden Tag nur eine dünne Suppe, auf dem Sportplatz spielen durfte Nabil noch nie.

Nabil erzählt uns, dass er nach England oder Deutschland möchte, um dort in die Schule zu gehen, zurück kann er nicht, er fürchtet sich vor seinem Onkel, dessen Geld er genommen hat. In sehr ruhigem Ton spricht er von der Flucht und von dem, was ihn in Afghanistan erwarten würde, lediglich im Umgang mit den anderen Jungs merkt man ihm sein wahres Alter an.

Nabil würde uns offenbar gerne noch mehr erzählen, doch wir werden von den Soldatinnen, die die jungen Flüchtlinge bewachen, unterbrochen. Nabil muss zum Verhör.

Im Verhör erfährt Nabil, dass er, da er minderjährig ist, nicht in der Ukraine bleiben kann und deshalb wieder nach Afghanistan zurück muss. Sein Onkel wartet dort schon auf ihn.

Nabils Ende der Flucht an der Grenze zur Slowakei zum Durchklicken – Sämtliche Bilder von den Autoren.