
Lenins letztes Land
Transnistrien liegt auf keiner politischen Karte, sondern in der Vergangenheit. Als die Sowjetunion zerfiel, überlebte der Sozialismus in einem kleinen Gebiet in Moldawien, das nirgends als Staat anerkannt wird. Die Folgen des Ukraine-Konfliktes könnten auch hier die alte Ordnung verwerfen. Jakob Bajohr unternahm einen Streifzug durch das Land, das keines ist.
Trotz des Schneefalls jagt der Fahrer den Lieferwagen erbarmungslos über die zerklüftete Straße. Wir rauschen vorbei an kleinen Dörfern, kahlen Äckern und Bäumen, an Menschen, die am Straßenrand stehen. Mit meiner Tasche auf dem Schoß versuche ich, trotz des Rumpelns ein Formular auszufüllen, das mir der Fahrer in die Hand gedrückt hat: „Einreiseformular“ steht oben drauf. Wir sind auf dem Weg nach Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens.
Dieser „Staat“ zwischen Moldawien und der Ukraine wird von niemandem als solcher anerkannt. De jure existiert er nicht.
Der diensthabende Wachposten an der Grenze sieht das anders: Für mehr als 500.000 Menschen ist Transnistrien Wirklichkeit; und er ist einer von ihnen. Minutenlang inspiziert er meinen Pass, stellt mir Fragen: Wer sind Sie? Wohin wollen Sie? Warum wollen Sie dorthin? Schließlich: „Willkommen in der Pridnestrowischen Moldauischen Republik. Bitte registrieren Sie sich innerhalb von 24 Stunden bei den örtlichen Behörden in Tiraspol.“
Die Einreise ist gelungen!
Die Sowjetunion in den Köpfen
In Tiraspol prallen urbane Sowjetmelancholie und Marktwirtschaft aufeinander. Vor dem prunkvollen Rathaus und dem Parlament wacht eine Leninstatue, Staatswappen und -flagge tragen Hammer und Sichel, in der Universität Tiraspol finden sich beleuchtete Bleiglasfenster mit roten Sternen und entschlossen dreinblickenden Menschen aus sowjetischer Zeit. „Eine gute Zeit“, meint ein Universitätsbediensteter, der fließend Deutsch spricht.
Draußen dann: Werbetafeln und Supermärkte der örtlichen Kette „Sheriff“ – die es übrigens trotz des Namens wohl nicht immer so ganz genau mit Recht und Gesetz nimmt: Von Geldwäsche und mafiaartigen Konzernstrukturen ist die Rede. Daneben Restaurants und moderne Bars. In einer solchen Bar arbeitet auch Roman. Er ist 20 Jahre alt, studiert Kunst und Design, lernt Englisch und möchte vor allem eins: weg. Am liebsten in die USA. „Unser Land ist in der Zeit stehen geblieben“, sagt er und fügt hinzu: „Es sieht hier zwar modern aus, aber in den Köpfen der Menschen ist das hier immer noch die Sowjetunion.“
Seine Freunde sehen das ähnlich. Sie treffen sich nach Romans Schicht in einem kleinen Apartment. Lenin hängt schon lange nicht mehr an der Wand. Transnistriens Jugend feiert und diskutiert bis spät in die Nacht darüber, wie es wäre, im Westen zu leben. Die Wohnung schmückt der Union Jack.

Die einen kommen vom Einkauf, der andere stürmt in die Geschichtsbücher: Alexander Suworow (1730–1800) gründete die Stadt Tiraspol.
Besuchst du unsere kleine Diktatur?
Lateinische Buchstaben sucht man auf den Straßen vergeblich, weiß-blau-rote Fahnen schmücken viele Fahrzeuge. Die Bevölkerung Transnistriens ist größtenteils russisch und fühlt sich Russland zugehörig. Die Russische Föderation hält seit Jahren ihre schützende Hand über das Gebiet, entsendet noch immer „Friedenstruppen“ nach Transnistrien, das sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für unabhängig erklärte. Als im Jahr 1990 die Pridnestrowische Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen wurde, erklärte beinahe gleichzeitig Moldawien seine Unabhängigkeit. 1992 kam es zum bewaffneten Konflikt zwischen Moldawien und Transnistrien. Russische Freiwillige kämpften auf transnistrischer Seite. Moldawien verlor jegliche Kontrolle über das Gebiet: Transnistrien verfügt über eine eigene Regierung, Rechtsprechung und Verfassung. Heute wünscht sich eine überwältigende Mehrheit von 97 Prozent der transnistrischen Bevölkerung eine Angliederung an Russland.
Einer aber, der sich in erster Linie als Moldauer sieht, ist Alexander (Name geändert). Der Hersteller von Grabsteinen ist überrascht über den Besucher aus dem Westen. „Besuchst du unsere kleine Diktatur?“, lacht er und lädt mich kurzerhand zu sich nach Hause ein. Die spärlich eingerichtete Einzimmerwohnung teilt er sich mit seinem Papagei.
„Die meisten Bürger leben in Armut und fressen dann die Propaganda, die ihnen von der Regierung aufgetischt wird. Aber ich nicht. Seit Tagen verfolge ich die Vorgänge in der Ukraine“, erklärt er und zeigt auf seinen Computer. „Ich hoffe, dass es auch hier Proteste gibt und dieses Land endlich zusammenbricht.“ Weder die Regierung noch die Ordnungskräfte könne er ernst nehmen.
Alexander lädt mich ein zu einem Spaziergang durch die Stadt, durch die Viertel abseits der breiten Prunkstraße. Wir wandern an riesigen Plattenbauten vorbei. Aus uralten Lkw heraus werden Früchte verkauft. In kleinen Läden stehen Frauen, die auf Kundschaft warten. Addiert wird mithilfe hölzerner Rechenschieber, bezahlt mit der eigenen Währung: dem pridnestrowischen Rubel. Der 5-Rubel-Schein ist wahrscheinlich der einzige Geldschein der Welt, der die Brennerei eines lokalen Spirituosenherstellers zeigt.
Immer wieder Lenin
Die Straße des 25. Oktober, deren Bauten aus der Stalinzeit stammen, ist durchsetzt von Schaufenstern und Werbeplakaten. Wer in Transnistrien Luxus sucht, findet ihn hier. Hübsche, modisch gekleidete Frauen und schicke Männer tragen ihn aus. In einem weißen Monumentalbau ist das Rathaus untergebracht. Der Kinderpalast befindet sich nur wenige Schritte davon entfernt. Hier tanzen, singen und musizieren die begabtesten Kinder des Landes. Große Tafeln honorieren Bürger, die sich besonders verdient gemacht haben um den Sozialismus und das Land. Eine Büste Juri Gagarins, ein Bild des ehemaligen Präsidenten Igor Smirnow. Und immer wieder: Wladimir Iljitsch Lenin.
Als ich vor dem Parlament stehe und ein Foto schießen will, werde ich von einem kahlgeschorenen Beamten angehalten. „Delete!“, blafft er mir entgegen. Zuerst will ich protestieren: Ein Parlamentsgebäude werde man doch fotografieren dürfen! Doch ich bremse mich. Denn eine „konsularische Betreuung durch die deutsche Botschaft Chisinau“ könne in Transnistrien nicht erfolgen, schreibt das Auswärtige Amt auf seiner Homepage. Ich will mir keinen Ärger einhandeln und lösche brav die beanstandeten Bilder. Ähnliche Szenen spielen sich vor einem Wohnblock und einem Supermarkt ab. Weshalb sind davon keine Fotos erlaubt? Die Begründungen, die man mir liefert, sind eigenwillig – das Gebäude sei nicht repräsentativ, der Eigentümer wünsche keine Fotos, oder aber es handele sich um ein „Gebäude von zentraler Bedeutung“, dessen fotografische Abbildung durch Ausländer grundsätzlich nicht erwünscht sei. Jedenfalls macht man mir unmissverständlich klar: Ordnung muss sein!

Eine allgegenwärtige Frage in Tansnistrien: Wann bricht es zusammen?
Am nächsten Tag treffe ich mich mit Andrej. Der 29-Jährige, der bis vor Kurzem als Lektor für deutsche Sprache an der Universität lehrte, lebt mit seiner Familie außerhalb des Zentrums Tiraspols und könnte der Meinung seines Landsmanns Alexander nicht entschiedener widersprechen: Er streitet für die Anerkennung Transnistriens. Stolz erzählt er mir von seinem Treffen mit dem deutschen Botschafter in Chisinau, auf dem er seine Position klar ausgedrückt hat: Transnistrien müsse endlich als souveräner Staat anerkannt werden. Es sei ja nicht auszuschließen, dass man sich irgendwann mit Moldawien wiedervereine. Doch wenn dies geschehe, wolle man die Gespräche als gleichberechtigte Partner führen.
Ob Transnistrien eine Demokratie sei, möchte ich wissen. „Wir hatten einen Präsidenten, der war ziemlich diktatorisch, aber er wurde durch freie und demokratische Wahlen abgelöst.“ Andrej meint die Ablösung Igor Smirnows, Präsident von 1992 bis 2011, durch Jewgeni Schewtschuk im Jahr 2011.
Tatsächlich führte Smirnow das Land viele Jahre mit diktatorischer Verfügungsgewalt und besetzte hochrangige Posten mit Familienmitgliedern. Lange hielt sich das – noch immer nicht gänzlich aus dem Weg geräumte – Gerücht, er sei der Kopf hinter dem dubiosen Sheriff-Konzern, profitiere vom illegalen Waffenhandel und der weitverbreiteten Korruption. Speziell dagegen richtete sich der als Reformer gepriesene Schewtschuk: Ihm gelang es, die Korruption und den Schmuggel einzudämmen. Menschenrechtsverletzungen und die Diskriminierung Rumänisch sprechender Bevölkerungsteile blieben dennoch auch unter Schewtschuk nicht gänzlich aus. Die Nachwirkungen der 20 Jahre währenden autoritären Herrschaft seines Vorgängers kann er nicht von heute auf morgen auflösen. Vielleicht will er das auch nicht.
Als ich am Tag meiner Abreise im Taxi sitze, schaltet der Fahrer Radio PMR ein. Während ein russischer Chor das Partisanenlied „Bella Ciao“ schmettert, weiß ich: die Sowjetunion ist tot. Aber hier lebt sie weiter. Zumindest manchmal.
Nur wenige Tage nach meiner Abreise annektiert Russland die ukrainische Halbinsel Krim. Und auch in Transnistrien werden die Rufe derer, die lieber früher als später ein Teil Russlands werden wollen, wieder lauter. Es würde das Leben der Menschen hier verändern. Zum Guten, glauben viele.
Nachtrag der Redaktion am 18. März 2017: Am Status Transnistriens hat sich seit Jakobs Reise grundsätzlich nichts geändert: Die Pridnestrowische Republik Moldau ist weiterhin international nicht anerkannt, zu Russland gehört sie aber trotz sozialpolitischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit auch nach wie vor nicht. Im Juli 2016 war der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier als Vorsitzender der OSZE nach Chisinau gereist, um zwischen Moldau und Transnistrien zu vermitteln, die Gespräche über “vertrauensbildende Maßnahmen” endeten weitgehend ergebnislos. Mit der Wahl Igor Dodons zum Präsidenten Moldawiens im Dezember 2016 nähert sich das bislang EU-freundliche Land zudem wieder an Russland an und damit auch an das abtrünnige Transnistrien: Bei einem Treffen Dodons mit dem transnistrischen Präsidenten Wadim Krasnoselski vereinbarten sie die gemeinsame Lösung der Probleme ihrer Bürger. Wie die russlandnahen Sputnik News Anfang März 2017 schreiben, hat der Oberste Rat Transnistriens die russische Fahne nun mit der offiziellen gleichgesetzt, sie soll die “Stärkung der transnistrischen Staatlichkeit und eine neue Etappe in der Integration mit Russland symbolisieren”.