Können wir die Polizei abschaffen?
... und wenn ja, was dann? Eine Utopie im Realitätscheck
2020 ist etwas passiert, was vorher nicht denkbar war.
Die Abschaffung der Polizei stand im Raum, nicht allein in der taz-Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah. In Minneapolis haben Demonstranten eine Polizeistation abgebrannt, um auszudrücken, dass die Polizei eben nicht reformiert werden könne. Tatsächlich beschloss die Stadt in Minnesota im Juni 2020, die Polizei in ihrer bisherigen Form abzuschaffen – was vorher utopisch schien, wurde real.
Mit den Protesten verlor die Polizei ihre Natürlichkeit und flog aus dem heiligen Dreieck von Legislative, Judikative, Exekutive. Für mehr Menschen wurde sichtbar, dass die Polizei von Menschen geschaffen wurde. Vor gar nicht allzu langer Zeit. Die Autorin Vicky Osterweil schrieb: „Die Aufständischen haben gezeigt, dass die Exekutive nicht über den Kräften der Geschichte steht.“
Sollte die Polizei bald ein schreckliches Kapitel in unseren Geschichtsbüchern sein?
Die Forderung „Abolish the police“ war vor allem auf Black-Lives-Matter-Protesten zu hören und zu sehen. Rassistische Morde wie der an George Floyd im Mai 2020 erschienen als die Spitze eines Eisbergs. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und Europa: Die verschiedenen Polizei-Institutionen geben traditionell vor, für alle Bürger gleichermaßen da zu sein. In der Praxis löst sie das aber oft nicht ein. Sie arbeitet vor allem für jene Menschen, die gesellschaftlichen Normen entsprechen und besser noch: wohlhabend sind. Schwarze Menschen, Menschen mit Migrationsgeschichte und solche ohne Cis-Identität erfahren Diskriminierung bis hin zu schweren Gewalttaten. Dazu kommen Mitgliedschaften in rechtsextremen Netzwerken und äußerst fragwürdigeEinsätze wie bei den Anschlägen von Hanau und Halle.
All das wird außerhalb der Polizei wenig bestritten. Infrage gestellt wird eher, ob es sich bei alldem um eine irgendwo wabernde Kultur handle (“Cop Culture”), die Diskriminierung durch einzelne Polizisten zwar fördert – das Problem liege dabei jedoch nicht bei der Institution Polizei an sich. Oder ob die Polizei als Ganzes strukturell rassistisch sei, mit einem grundsätzlich zweifelhaftem Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten, das nur für wenige Sicherheit schafft und viele Menschen eher bedroht als schützt, vor allem die Schwachen. Dann nämlich würden Schulungen und Diversity-Beauftragte keines der Probleme im Kern berühren.
Die Geschichte des Abolitionismus
Einige arbeiten seit Langem auf eine Gesellschaft ohne Polizei hin. Die Bewegung heißt Abolitionismus. Eine lange Tradition abolitionistischer Ansätze gibt es vor allem in den USA. In Deutschland scheint der Abolitionismus hingegen meist nur am Rande auf. In den letzten Jahren gab es zwar auch hierzulande vermehrt polizeikritische Proteste und Bewegungen – etwa gegen die Polizeigewalt beim G20-Gipfel in Hamburg, die bundesweite Verschärfung von Polizeigesetzen, gegen wiederkehrende rechtsextreme, sogenannte Einzelfälle in den Sicherheitsbehörden sowie der Protest um die unaufgeklärte, mutmaßliche Tötung von Oury Jalloh durch Dessauer Polizeibeamte im Jahr 2005.
Daneben sind politisch Verfolgte, Gefangene und Geflüchtete in Vereinen und Initiativen organisiert, wie beim linken Solidaritäts-Verein Rote Hilfe, bei der Gefangengewerkschaft GG/BO, bei Women in Exile, einer Initiative von geflüchteten Frauen, sowie bei diversen CopWatch-Gruppen und der Kampagne Death in Custody, die sich mit der Dokumentation von Polizeigewalt, Diskriminierung und polizeilichen Morden beschäftigen.
Diese Bewegungen haben in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen und viele Missstände angeprangert. Doch stand dabei nicht die Abschaffung der Polizei im Fokus, sondern mehr ein Strauß von Reformen – wie die Abschaffung von Sammelunterkünften oder die Einführung unabhängiger Ermittlungsbehörden.
Insbesondere antirassistische und feministische Aktivistinnen haben aber auch hierzulande nach Alternativen zur Polizei gefragt und sich dabei auf die Arbeit von Feministinnen of Color in den USA bezogen. Mit der Resonanz von Black Lives Matter wurden abolitionistische Perspektiven selbst in größeren Medien hörbar. Camilla Parks, Aktivistin der Migrantifa Berlin, sagte der taz, den strukturellen Rassismus der Polizei auch in Deutschland anzuerkennen sei nur der erste Schritt: „In einem zweiten Schritt sollte man überlegen, ob die Polizei, wie sie jetzt ist, nach einer ehrlichen Aufarbeitung von Rassismus überhaupt bestehen bleiben kann. Wir würden sagen: Nein.“
Was heißt das aber praktisch, wenn die Polizei eine nicht-reformierbare Institution ist?
In den USA ist der Abolitionismus auch jenseits linker Strukturen in der Gesellschaft verankert. Manche Gruppen blockieren Waffenmessen, andere haben selbstorganisierte Notruf-Strukturen eingerichtet; es gibt Kampagnen gegen neue Knäste sowie selbstorganisierte Prozesse, in denen Gewalt aufgearbeitet wird. Die vielen Aktionsformen folgen letztendlich einer doppelten Machtstrategie, wie es die Politikwissenschaftlerin Meghan G. McDowell und der Kriminologe Luis A. Fernandez nennen – im Grunde also zwei Strategien, die sich gegenseitig ergänzen. Während die erste auf die Entmachtung bestehender Strukturen zielt, sollen mit der zweiten alternative Strukturen geschaffen werden. In der Regel sind das selbstorganisierte Praktiken. Die stellen statt einer Polizei Sicherheit her, besonders für Menschen, für die das staatliche Autoritäten bisher kaum oder gar nicht leisten.
Schauen wir uns alles zusammen an, bekommen wir eine Ahnung davon, wie eine Gesellschaft ohne Polizei aussehen kann.
Ausschnitt aus dem Zine “Building a Police-Free Future”
Care not Cops
Die Polizei löst kaum die von ihr bearbeiteten Probleme und mehr noch: sie verschärft die Probleme eher – insbesondere für Menschen mit psychischen Erkrankungen, Wohnungslosen und People of Color. Das ist die gemeinsame Einsicht von Care Not Cops aus Portland, im Nordwesten der USA. Im Bündnis organisieren sich Aktivisten und diverse Selbsthilfegruppen; etwa von Geringverdienenden, Wohnungslosen, psychisch Erkrankten und Menschen mit Migrationserfahrung. Sie eint, dass sie soziale Probleme auf die Betroffenen zentriert bearbeiten. Wie der Name schon sagt, will „Care Not Cops“ die Pflege stärken, statt die Polizei zur Problemlösung heranzuziehen. Das Bündnis versucht, Einfluss aufs Stadtparlament zu nehmen: Statt das Polizeibudget um sechs Millionen Dollar zu erhöhen, sollte es umgewidmet werden, die Spezialeinheit gegen sogenannte Gangs namens „GET“ sollte abgeschafft werden, sämtliche Polizeieinheiten sollten aus den Schulen abziehen. Stattdessen sollte die soziale Basis besser finanziert werden – etwa ein respite house (etwa: „Haus für Ruhepausen“), das Menschen in Krisensituationen zwei bis drei Wochen Obdach und Schutz bietet. Die Organisation Street Vendors bringt es auf den Punkt: „Hausschlüssel statt Handschellen“ .
Stop Urban Shield

Infografik der Kampagne "Stop Urban Shield""
Urban Shield ist eine Waffenmesse, die bis 2018 jährlich im kalifornischen Almeida County stattfand. Gleichzeitig war Urban Shield ein Trainingsevent für unter dem Namen SWAT bekannten Spezialeinheiten – die Graswurzel-Aktivisten von Stop Urban Shield sahen die Messe als zentralen Ort für die Militarisierung der Polizei. Unter dem Mantel der Terrorbekämpfung würden People of Color und politischer Widerstand unterdrückt. Daneben band die Messe auch Feuerwehr und Rettungsdienste ein – aus Sicht der Kritiker werden so selbst Notfälle militarisiert. Im Jahr 2016 ketteten sich einige Dutzend Aktivisten am Eingang zur Messe zusammen, um den reibungslosen Ablauf zu stören. Neben diesen direkten Aktionen hat Stop Urban Shield eine Kampagne organisiert, in der Betroffene von SWAT-Einheiten ihre Geschichten erzählen, auch sollte die Messe nicht mehr kommunal bezuschusst werden. Das hat schließlich tatsächlich zum Ende der Messe geführt.
No 911 – keine 110
Das Zine 12 Things to do Instead of Calling the Cops zeigt alternative Handlungsoptionen für Situationen, in denen üblicherweise die Polizei gerufen wird:
Ohne Frage: Manchmal genügen diese Tipps nicht. Neben der eher situativen Hilfe wie durch „12 Things to do …“ bauen manche eigene, selbstorganisierte Strukturen auf, die die Funktionen von Polizei und Strafjustizsystems perspektivisch übernehmen sollen. Rund um San Francisco ist das Anti Police Terror Project (APTP) aktiv. Wie andere Projekte stellt APTP fest, dass ein Polizeiruf oft gefährlich ist, auch für diejenigen, in deren Sinne man den Notruf tätigt – insbesondere für Menschen in psychischen Ausnahme-Situationen oder People of Color. Das Anti Police Terror Project betreibt darum alternative Notrufe in Oakland und Sacramento.

Kontakt des Anti Police Terror Project in Oakland/USA
Community Accountability

Die vier Dimensionen eines Community-Accountability-Prozesses
Was tun, wenn trotz Prävention Gewalt passiert? Wo im Normalfall die Strafjustiz tätig wird, kursiert unter den Namen Transformative Justice und Community Accountability ein anderer Ansatz. Alex* von der Dresdner Gruppe e*space macht Bildungsarbeit zum kollektiven Umgang mit – oft sexualisierter – Gewalt und Diskriminierung und erklärt das Ziel der Community Accountability: dass Betroffene und gewaltausübende Person langfristig in Ko-Existenz leben können.
Dabei ist es wichtig, dass die Interessen der Betroffenen im Zentrum stehen. Trotzdem: Bei der gewaltausübenden Person arbeiten wir auf Reflexion und Verantwortungsübernahme hin statt auf Strafe und Ausgrenzung.
Während Strafprozesse nach einem festen Schema ablaufen, ist Community Accountability ein relativ offener Prozess, der sich an verschiedenen Grundprinzipien orientiert. Der Prozess wird so gestaltet, wie es den Zielen, Interessen und Bedürfnissen der von Gewalt betroffenen Person entspricht. Ein zweites wichtiges Prinzip ist es, das Verhalten der gewalttätigen Person von ihr als Person zu trennen und auf Verhaltensänderung hinzuarbeiten. Was das konkret bedeutet, veranschaulicht Alex an einem Beispiel:
Ich wurde als Moderation angefragt in einem Fall, wo es um eine Person ging, die von Online-Hate-Speech betroffen war. Die Betroffene hatte vor allem das Interesse zu verstehen, warum die Gewalt ausgeübt wurde. Im Gespräch haben die Täter dann zunächst dazu berichtet. Wir konnten dann Umgangsvereinbarungen treffen. Für die betroffene Person hat das Treffen etwas gelöst und die Gewaltausübenden waren froh, dass das Problem ohne Polizei gelöst werden konnte. Hoffentlich setzen sie sich weiter mit ihrem Verhalten auseinander.
Das Konzept der Community Accountability geht über die Prozesse zwischen Betroffenen und Gewaltausübenden und setzt sich gegen sogenannten Täterschutz und Widerstände in deren Umfeld ein.
*Alex hat anonym mit uns gesprochen, das ganze Interview gibt es hier.
Die Anti-Polizei-Polizei in Rojava

Einheiten der HPC-Jin in Rojava, Nord-Syrien
Die demokratische Konföderation Nord-Syrien ist besser unter dem Namen Rojava bekannt. Im Gebiet nahe der türkischen Grenze wurde 2011 das Assad-Regime entmachtet. Die syrische Befreiungsbewegung begann, ein neues Gesellschaftsmodell aufzubauen, den „demokratischen Konföderalismus“: rätedemokratisch, anti-hierarchisch, anti-nationalistisch, feministisch, ökologisch. Der Wandel zog nicht an den Sicherheitsorganen vorbei – zwei Institutionen gelten als Musterbeispiele für ein abolitionistisches Modell: die Asayish und die Zivilverteidigungskräfte, eine Freiwilligenorganisation für nachbarschaftlichen Selbstschutz.
Laut den Asayish unterscheidet sich deren Arbeit sehr von gewöhnlicher Polizeiarbeit. Für Asim Amed, Rechtsberater der Asayish, liegt der Unterschied zum Beispiel in Abteilungen, die eine Polizei sonst nicht habe: „Wir bieten den Bürger*innen öffentliche Dienste an wie Krankenwagen und Feuerwehr, daneben schützen wir archäologische Stätten.“ Seine eigene Arbeitsstelle, das Allgemeine Rechtsbüro von Rojava, mache einen weiteren Unterschied aus: „Diese Sektion überprüft, inwiefern die Sicherheitskräfte gegebene Gesetze tatsächlich schützen und einhalten, und zwar so, wie sie gedacht sind.“
Die HPC wiederum ist eine Freiwilligenorganisation. Wie die Asayish sind sie Teil des Rätesystems und hat autonome, weibliche Verbände wie die HPC-Jin sowie geschlechtsübergreifende.
Wir können die Angaben aus Rojava leider nicht unabhängig prüfen. Mehr zum Sicherheitssystem in Rojava liest du hier.