Mit Bonusmeilen nach Kenia
Wie so viele reiste Deborah nach der Schule nach Afrika. Weit weg vom elterlichen Küchentisch suchte sie Hoffnung bei denen, die weniger hatten als sie. Und lernte, dass eben nicht alle alles erreichen konnten – auch wenn sie sich noch so sehr anstrengen.
Dass Hautfarben über Schicksale entscheiden, wollte ich lange nicht glauben. Immerhin wachsen wir auf mit einem Weltbild, in dem alle alles schaffen können sollen. Wenn dann am heimischen Essenstisch von den „Kindern in Afrika“ die Rede war, ahnte man zumindest, dass das nicht ganz stimmt.
Das hatte aber nicht zur Folge, dass wir unsere Privilegien hinterfragten; wir aßen nur den Teller leer.
Erst während meiner Zeit in Kenia hat sich das geändert.
* * *
Nach meinem Abi wollte ich eigentlich einen klassischen Freiwilligendienst machen, wie jährlich zwanzig- bis dreißigtausend junge Deutsche: organisiertes Helfen mit Reiserücktrittsversicherung. Meist werden diese Dienste von privaten Anbietern vermittelt. Das aber war zu teuer. Glücklicherweise konnte ich stattdessen zu Bekannten meiner Eltern Freunde in Kenia fahren. Vom ostafrikanischen Land wusste ich da noch nicht viel, abgesehen von Safaris und der Artenvielfalt. Für mich war nur klar gewesen, dass es Afrika sein sollte. Warum?
Vor zwanzig Jahren wurde ich in einer deutschen Stadt geboren. Meine Eltern zogen mich und meine drei älteren Geschwister groß. 1998 gab es in Deutschland 1,36 Geburten pro Frau, meine Mutter lag also weit über dem Durchschnitt. Seit meiner Geburt sind wir zweimal umgezogen; im dritten Haus wohnen meine Eltern immer noch. Es ist ein großes Grundstück, wir haben einen Garten und zwei Haustüren. Eine führt zum Wohnhaus, die andere in das Büro meines Vaters, er ist selbstständig. Das Haus kann man in zwei Wohnungen teilen, wenn man eine Wand einbaut, damit die eine Hälfte vermietet werden kann, wenn alle Kinder ausgezogen sind. Meine Eltern haben viele internationale Kontakte, sie bekommen oft Besuch und haben genug Platz, Gästen Unterkunft zu bieten. Wenn ich oder meine Geschwister nach Hause kommen, ist immer ein Bett frei.
Wenn Kinder ihren Teller nicht leeressen, sagen Erwachsene: „Iss auf, andere Kinder müssen hungern.“ Als könne man durch die eigene Sattheit das Elend der anderen mindern. Als würde das Essen, das man wegschmeißt, nicht in der Tonne, sondern in hungrigen Mündern landen. Wenn man älter wird, bekommt man auf die eigenen Probleme oft die Antwort: „Anderen geht es viel schlechter“. Und: „Es gibt Schlimmeres“. Soll das Elend der Anderen zur Wertschätzung der eigenen, vergleichsweise harmlosen Probleme anregen? Nein, eigentlich ist es noch einfacher: Kinder sollen aufessen, weil sie was zu essen haben und andere nicht. Erwachsene sollen glücklich sein, weil ihr Lebensstandard höher ist als der der Anderen. Die „Anderen“ sind immer präsent, am Essenstisch und in der Schule.
Die „Anderen“, das sind die, die noch träumen; die trotz materieller Nöte nicht die Hoffnung verlieren.
Die „Anderen“, das sind die in Afrika.
Ich blickte zu Boden und wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich war ja diejenige, die auf einem anderen Kontinent ist, ohne Eltern, und ohne dass sie es mir verboten hätten.
Dort also wollte ich hin. Nach dem Abi buchte ich ein Ticket nach Nairobi, der Hauptstadt von Kenia. Sobald das Flugzeug abhob, erwartete ich ein neues Leben, zumindest für die nächsten drei Monate. Empfangen sollte mich das besagte Ehepaar, die Freunde von Bekannten, die ich bis dahin nur über E-Mail kannte. Tage zuvor hatte ich mir Gedanken gemacht, wie wir uns erkennen würden – Fotos hatten wir uns keine geschickt. Am Jomo-Kenyatta-Flughafen angekommen grinste mich meine Gastmutter dann sofort an. Wir gingen aufeinander zu, warfen uns fragende und bestätigende Blicke zu, bis wir uns sicher waren. Sie machte ein Selfie mit ihrem Mann und mir, damit sie es meiner Mutter schicken konnte. Ich aber wollte nun etwas ganz alleine erleben, ohne meine Eltern und Familie in Europa.
Die ersten drei Wochen lebte ich bei meinen Gasteltern. Meine Gastmutter Nala (alle Namen geändert) war Lehrerin, mit ihr bin ich zur Schule gegangen, hab den Schülern bei Hausaufgaben geholfen, mit den jüngeren gespielt. Meine Gasteltern hatten drei Kinder, zwei Jungs und ein Mädchen. Der Älteste, Kovo, macht ein IT-Studium und wohnt bei seinen Eltern. Oft sprach er darüber, dass er sich von seinen Eltern eingeengt fühlt, dass er gerne alleine leben und neue Dinge erleben möchte. Ich saß ihm gegenüber auf dem Sofa, blickte zu Boden und wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich war ja diejenige, die gerade auf einem anderen Kontinent ist, ohne Eltern, ohne dass sie es mir empfohlen, ausgeredet oder verboten hätten.
Bücher, Filme und schlaue Internetweisheiten, meine Lehrer, Eltern und auch meine Freunde hatten mir lange Zeit eingeredet, man könnte alles erreichen, wenn man sich nur genug anstrengte. Jetzt wusste ich, dass das nicht stimmt. Es ist eine Lüge, erzählt von Menschen, denen ihre Privilegien in die Wiege gelegt wurden. Ich bin genau so ein Kind.
Das jüngste Kind meiner Gasteltern war elf Jahre alt. Jamila war aufgeweckt und bemerkte meine stille, teils zurückgezogene Art. „Ich verstehe nicht, was mit jungen Menschen passiert. Sie werden groß und weniger gesprächig. Naja, vielleicht gewöhne ich mich in ein paar Wochen an dich“, sagte sie einmal zu mir. Ich wusste genau, was sie meinte. Ich wusste, dass ich früher genauso war wie sie und mich irgendwas verändert hatte. Meine Aufgewecktheit wurde zu Nachdenklichkeit, meine Unbekümmertheit wurde zu Melancholie und Nostalgie. Warum, das konnte ich Jamila nicht erklären. Vielleicht denken wir irgendwann, unsere Worte hätten kaum Bedeutung.
Als wollte ich damit etwas Schuld ablegen, die weiße Menschen auf sich geladen haben. Natürlich geht das nicht.
In Deutschland hatte ich nie infrage gestellt, dass Wasser aus dem Hahn kommen würde, wenn ich ihn aufdrehte. Wenn das Duschwasser mal ein paar Grad kühler war als sonst, dann nur, weil in dem anderen Badezimmer gerade jemand gleichzeitig heiß duschte. Meine Wäsche wusch ich nie selbst, und wenn doch, dann erledigte es die Waschmaschine. Es war mir eine Selbstverständlichkeit, dass ich alleine draußen spielen und Freunde treffen konnte. Sehr früh begann ich, eigene Pläne zu machen, mich mit Freunden zu verabreden, bei ihnen zu übernachten und auf Geburtstage zu gehen. Als Teenager tanzte ich von der einen zur nächsten Party. Das Sprichwort „Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen“ hörte ich oft. Ich ließ mich dadurch aber nicht warnen, sondern herausfordern.
Auf Kenias Straßen behandelten mich die Menschen wie etwas ganz Besonderes. „Mzungu!“ riefen sie mir zu, „weißer Mensch“. Sie winkten, zeigten auf mich und wollten mit mir sprechen. Meistens winkte ich zurück oder lächelte zurückhaltend; eine Antwort aber wusste ich nicht. Ein Mann fragte mich, woher ich komme, und antwortete dann mit: „Ohh, so you’re a sister of Hitler!“ Ich glaube, daraufhin lächelte ich einfach – bevor ich begriff, was er überhaupt gesagt hatte. Dann taten mir seine Worte weh. Aber konnte ich es ihm übelnehmen? Dass ihm als Erstes Nazis in den Sinn kommen, wenn er „Deutschland“ hört?
Die Kinder in der Schule fragten mich, warum man in Deutschland so rassistisch ist. Ich schämte mich, dachte an die AfD, hatte Alexander Gaulands Gesicht vor Augen und versuchte ihnen die politischen Entwicklungen zu erklären. Ich sagte, dass es immer noch Rassisten gibt, aber dass nicht alle Menschen in Deutschland rassistisch sind, dass es auch sehr viele Organisationen und Verbände gegen Rassismus gibt. Ich habe ihnen erzählt, dass sich viele Menschen in meinem Umfeld darum bemühen, sensibler dafür zu werden und auch andere auf Fehlverhalten und falsche Ansichten aufmerksam zu machen. Ich hatte das Gefühl, als wollte ich damit etwas Schuld ablegen, die weiße Menschen auf sich geladen haben. Natürlich geht das nicht.
Ich öffnete Facebook. Eine Seite in meiner Timeline vermittelte Sugar Mummys: vorwiegend Europäerinnen, die für einen kurzen Aufenthalt nach Kenia kamen. Über den Fotos gab es eine kurze Beschreibung dessen, was die Frau sucht, mit ihrer Handynummer. Mir wurde schlagartig übel.
Heute finde ich diese Facebook-Seite nicht mehr, dafür eine andere: „Hook up page of Kenya for whites“. Hier läuft’s andersrum: Schwarze Frauen werden weißen Männern feilgeboten – „Only mature women whether single separated divorced widowed or tired of dating black.“
Während es in Deutschland Sonnenstudios gibt, die weiße Haut dunkler machen, gibt es in Kenia alle möglichen Produkte, um schwarze Haut heller zu machen. Das erzählte mir dort eine Freundin.
Der mittlere Sohn meiner Gastfamilie, Kito, hatte mit einem Freund ein Spiel erfunden. Dabei ging es darum, eine Freundin zu finden. Wenn die Partnerin aus einem anderen Land kommt, sollte es einen Bonus geben. Ich fragte, warum das besser sein sollte: eine Freundin zu haben, die nicht aus Kenia stammt. Er sagte, dass das einfach die Regeln sind, dass das doch spannender ist. Man dann vielleicht eher reisen kann, und die Mädchen in Kenia eben anders sind. Ich sagte, dass die Herkunft doch nicht darüber entscheiden sollte, ob man mit jemandem in einer Beziehung sein möchte. Kito blieb dabei, es wäre halt trotzdem irgendwie cooler, wenn sie nicht aus Kenia kommt. Dass der Charakter viel wichtiger wäre als die Herkunft, das war halt auch eine Meinung, die ich mir leisten konnte.
Die Nachbarn lassen eben mal den Satz fallen, sie hätten ja doch auch Angst, dass eines Tages Schwarze vor der Tür stünden.
Zurück in Deutschland rege ich mich über Afrikawitze auf – manche meiner Freunde stattdessen darüber, dass Deutschland teils immer noch als Naziland gesehen wird; und zwar während ganz real die Prozentzahlen der AfD steigen; Marc Zuckerberg verkündet, die Leugnung des Holocausts würde nicht gegen die Facebook-Richtlinien verstoßen; und ein benachbartes Ehepaar eben mal den Satz fallen lässt, sie hätten ja doch auch Angst, dass eines Tages Schwarze vor der Tür stünden. Geschichtsbücher kann man zuklappen, Rassismus beendet man dadurch nicht – im Gegenteil.
„Mit Ehrgeiz kannst du alles erreichen.“ Meine Freundinnen in Kenia haben lieber gesagt: Man kann sich das Leben als easy erklären, und genauso easy ist es dann auch.
„Ich wünschte, ich könnte auch reisen wie du“, sagten sie. Und wieder wusste ich keine Antwort. Sie waren nicht weniger fleißig als ich und keinesfalls weniger bereit, Kompromisse einzugehen. Ob ich ihnen einen Job in Deutschland besorgen könne?
Einer gewissen American-Dream-Logik hingen sowohl ich als auch meine Freunde in Kenia nach. Wir waren alle auf der Suche: sie nach einem materiell besseren Leben unter dem Motto life is easy, möglichst mit Arbeit in Europa. Und ich war nach Afrika gegangen, um mit derselben Attitüde meinen Weltschmerz zu bekämpfen. Doch für sie bedeutete life is easy eben etwas ganz Anderes als für mich.
Gesichter sehen, jeden Tag
Ihre Gastschwester Jamila inspirierte Deborah dazu, den jungen Menschen eine Stimme zu geben. Was würden sie sagen, wenn ihnen jede zuhören würde? So entstand eine Reihe von Porträts. Heute versucht Deborah, ihre Filterblase zu erweitern, hauptsächlich übers Internet, Youtube, Instagram.
Das Titelbild zeigt Deborah mit ihrer besten Freundin in Kenia, am Strand von Mombasa.
Redaktion: Fabian Stark