Es ist der 1. Mai, Vormittag in Berlin-Kreuzberg. Auf der Straße beginnt langsam der gewohnte Trubel. Die ersten Leute tanzen vor eine Anlage, die aus einem Erdgeschoss dröhnt. Kleine Gruppen spazieren in Richtung Myfest, ein Straßenfest, das in den letzten 15 Jahren die traditionellen Ausschreitungen am Arbeiterkampftag befrieden soll. Doch in einer kleinen Wohnung im Hinterhaus einer typischen Berliner Mietskaserne steht heute nicht die Party im Mittelpunkt. Hier werden Transparente mit kyrillischen Buchstaben gemalt. Überall sieht man eine Flagge, und zwar nicht die rote Fahne, typisch für den 1. Mai, sondern die türkis-blaue Kasachstans. Die zwei Dutzend jungen Leute kleben sich Hashtags mit Kreppband auf die Kleidung: #FreeAsyaFreeBeibaeys, #qazaqkoktemi (der kasachische Frühling) und #uCantRunFromTheTruth, ist da zu lesen.

„Zwei meiner Freunde sitzen im Gefängnis, weil sie ihre Rechte eingefordert haben. Sie haben nicht zu Gewalt aufgerufen, sie wollen nur ihr verfassungsmäßiges Recht auf freie Wahlen.“ Erklärt mir Yerkin, Mitte 40 und große Designersonnenbrille. Yerkin ist vor einigen Jahren wegen seines Partners nach Berlin gezogen.

Nur vier Tage nach seinem Rücktritt wird die Hauptstadt des Landes nach Nasarbajew umbenannt, in „Nur-Sultan“

*

Warum protestieren die Kasachen an diesem 1. Mai? Asya Tulesova and Beibarys Tolymbekov, zwei Aktivisten aus Almaty, der größten Stadt des Landes, hatten am 21. April ein Plakat am Rande eines Marathons hochgehalten. Auf dem war zu lesen: „You can’t run away from the truth.“ Yerkin sagt: „Dafür hat sie 15 Tage Gefängnis bekommen und ist jetzt in den Hungerstreik getreten.“

Abzal, Ende 20, kahl rasiert mit Ringen in Ohren und Nase, lebt als Designer in Paris und ist extra für den Protest angereist. Er kennt die Inhaftierte Asya aus dem Studium: „Ich habe Asya damals in San Francisco kennengelernt, da hat sie für Pixar gearbeitet. Sie ist wirklich eine großartige Animatorin. Aber sie war auch schon immer sehr politisch, sie wollte unbedingt zurück nach Kasachstan, weil sie dort etwas für unsere Heimat tun wollte.“

Der Hintergrund für die Aktion ist der vielleicht dramatischste Wandel in der kasachischen Politik seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Am 19. März kündigt der Präsident des Landes Nursultan Nasarbajew seinen Rücktritt an. Bereits seit 1984, schon zu Sowjetzeiten, war er Premierminister des Landes. Nach dem Zerfall des kommunistischen Blocks wechselte er in die Rolle des Staatspräsidenten. Nach 34 Jahren an der Spitze des Landes bleibt er zwar weiterhin Vorsitzender der Regierungspartei, öffnet aber auch ein in der Geschichte Kasachstans bisher einzigartiges Machtvakuum. Schnell wird klar, dass es so bald kein Kasachstan ohne den Übervater Nasarbajew geben wird: Nur vier Tage nach seinem Rücktritt wird die Hauptstadt des Landes Astana nach ihm umbenannt, in „Nur-Sultan“.

Nun stehen in Kasachstan Neuwahlen an – bereits am 9. Juni dieses Jahres. Es gilt unter Beobachtern als sicher, dass der vom ehemaligen Präsidenten protegierte Qassym-Schomart Toqajew, der bis dahin als Interimspräsident fungiert, gewinnen wird. Aus Sicht der einiger Kritiker ist es nicht möglich, in so kurzer Zeit einen fairen Wahlkampf zu führen. Sie rufen deshalb zum Boykott der Wahlen auf, wie Radio Liberty berichtet.

Doch es geht auch darum, dass der Wohlstand des öl- und gasreichen Landes gerechter verteilt wird. „Kasachstan ist ein wunderschönes, reiches Land, doch es gibt diese kleine Gruppe, die 30 Jahre die Macht an sich gerissen hat und die Bevölkerung nicht am Wohlstand teilhaben lässt”, sagt Yerkin wütend. Doch die Leute würden zunehmend ihre Unzufriedenheit äußern. „Es gibt das Potential für eine Massenbewegung im Land, aber gleichzeitig einen extrem repressiven Polizeiapparat.“

Abzal (in der Mitte in Schwarz) und der Autor mit #FreeAsya
Andrea Bonetti

Abzal (in der Mitte in Schwarz) und der Autor mit #FreeAsya

*

Während sich am 1. Mai die kleine Gruppe in Kreuzberg bereit macht, um mit Bannern und Sprechchören durch das Volksfest zu ziehen und auf ihre Freunde im Gefängnis aufmerksam zu machen, gehen auch in allen größeren Städten in Kasachstan Menschen auf die Straße, um für faire Wahlen und Meinungsfreiheit zu demonstrieren. Und auch dieses Mal greift die Polizei hart durch. Mindestens 80 Personen sollen laut offiziellen Angaben an diesem Tag festgenommen worden sein. Doch aus welchem oppositionellen Lager die Festgenommen stammen, ist zunächst unklar.

Neben den jungen, oft nur lose organisierten Gruppen, die sich zivilgesellschaftlich für einen demokratischen Wandel einsetzen, gibt es auch noch andere Akteure, die politischen Einfluss gewinnen wollen. Einer davon ist der Banker Muchtar Abljasow, ehemals Industrie- und Energieminister des Landes, der nach einem Machtkampf innerhalb der Regierung ins Exil floh. Der Oligarch, der vermutlich in Paris wohnt, ruft seine Anhänger aus dem Exil zum Protest auf. Seine Partei Demokratische Wahl Kasachstan wird von der Regierung offiziell jedoch als Terrororganisation eingestuft. Das bedeutet für Demonstranten, die mit der Partei assoziiert werden könnten, eine große Gefahr.

Der scheidende Präsident rühmte sich in den drei Jahrzehnten seiner Amtszeit oft mit der inneren Sicherheit und Stabilität Kasachstans, während es in Nachbarländern wie Kirgisistan und Tadschikistan zu Unruhen bis zum Bürgerkrieg kam. Mit welcher Brutalität das Regime unter Nasarbajew jedoch bereit ist, jeden Widerstand zu brechen und seine Macht zu verteidigen, zeigte sich 2011, als die Regierung auf streikende Ölarbeiter schießen ließ. Beim Schangaösen-Massaker wurden mehr als 14 Menschen von Sicherheitskräften getötet, als sie für höhere Löhne demonstrierten.

Es bleibt zu hoffen, dass eine solch aggressive Reaktion ausbleibt, wenn sich jetzt eine demokratische Opposition gegen die autoritäre Führung im Lande formiert. Damit so etwas nicht passiert, müsse sich jetzt jeder zeigen und seine Stimme erheben, sagt Abzal: „Für unsere Freunde im Gefängnis und alle, die sich jetzt politisch einsetzen, ist es unglaublich wichtig, dass es auch internationale Aufmerksamkeit gibt. Die Regierung muss spüren, dass sie nicht alle Regeln brechen kann, gegen unsere eigene Verfassung verstoßen darf, nur um ihre Macht zu verteidigen.“

Yerkin (links im Bild)
Julia Boxler

Yerkin (links im Bild)

Redaktion: Fabian Stark

Das TONIC Plakazin n°7 über Wohnen und Architektur in Osteuropa und Zentralasien erscheint im Mai.