
„Hundert Lieder möcht’ ich singen“
Musik ruft Erinnerungen wach – selbst bei Menschen, die an Alzheimer leiden. Was schafft Musik, dass sich Demenzkranke an alte Lieder erinnern und sie wieder über beide Ohren strahlen?
Mit Schlagern zurück in die Jugend

Frank Bokemeyer bei der Arbeit
Es ist ein ruhiger Sonntagmorgen im März. Aus dem weißen Backsteinhaus hinter der alten Feuerwache im Berliner Stadtteil Heinersdorf klingt Musik. Eine Männerstimme singt dazu: „Wenn selbst der silberne Mond vom Himmelszelt herunterfällt, du bleibst das süßeste Mädel der Welt.“ Es ist ein Lied aus dem Jahr 1930, bekannt aus dem UFA-Filmklassiker Der Liebeswalzer.
Die alten Lieder ihrer Jugend singen die Frauen, als hätten sie erst gestern zu ihnen getanzt
Die Stimme gehört Frank Bokemeyer. Mit Zylinder, Frack, weißem Hemd und Fliege steht er auf einer kleinen Bühne im Gemeindesaal des Alten- und Pflegeheimes „Haus Ingrid“. Sein Publikum besteht größtenteils aus Frauen mit weiß-grauem Haar: mal zerzaust, mal gepflegt zurückgesteckt. Sie bewegen sich zum Takt der Musik. Viele strahlen über das ganze Gesicht und haben glasige Augen. Die Strophen über das süßeste Mädel der Welt kennen sie noch alle und singen textsicher mit.
Eine Frau, blaue Bluse, schwarze Stoffhose, schaut gedankenverloren zu Bokemeyer auf die Bühne. Ihre Lippen formen sich zu einem Lächeln. Über die Wange läuft ihr eine Träne. Woran sie das alte Lied wohl erinnert?
Mit der Musik hat sich die Stimmung bei den Alten schlagartig verändert. Wirkten viele der Bewohnerinnen eben noch abwesend, herrscht jetzt eine aufgelockerte Stimmung im Saal. „Hundert Lieder möcht’ ich singen“ ertönt es gemeinsam im Chor – eine Strophe aus Willy Fritschs und Lilian Harveys „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ (1937). Es scheint, als hätte jemand einen Schalter bei den Bewohnerinnen des Heimes umgelegt. Was bewirkt die Musik bewirkt, das die Alten so verändert?
Im „Haus Ingrid“ leiden laut der Heimleitung etwa 70 Prozent der Frauen an Alzheimer. Es ist die häufigste Form der Demenz. Eine Krankheit, die langsam zu Erinnerungsverlust und Orientierungslosigkeit bei Betroffenen führt.
Viele der Frauen erkennen ihre Angehörigen nicht mehr. Die alten Lieder ihrer Jugend aber singen sie, als hätten sie erst gestern zu ihnen getanzt.
Musiktherapie hilft beim Erinnern
Ortswechsel: In einer Berliner Alten-WG sitzt Barbara Witte mit sechs anderen Frauen am Küchentisch. Es ist Mittwoch. Und die 92-Jährige freut sich. Gleich wird es an der Tür klingeln. Einmal die Woche schaut Julia Pohl in der Wohngemeinschaft vorbei. Im Gepäck hat die Musiktherapeutin wie immer ihre Gitarre. Erst wird gemeinsam gesungen. Dann gibt es noch Einzelunterricht für jeden, der Lust hat. Barbara Witte hat Lust. Sehr sogar. Für die Demenzkranke ist der Besuch von Pohl die schönste Stunde der Woche, wie ihre Tochter Petra erzählt. „Sie ist dann einfach glücklich“, sagt sie. „Emotional ist es für sie ein solches Geschenk.“
Zunächst fiel Petra Witte die Veränderung bei ihrer Mutter gar nicht auf. Barbara Witte sei gut darin gewesen Dinge zu vertuschen. Doch dann wurde es immer schlimmer. „Sie warf Dinge aus dem Fenster und ließ die Herdplatten brennen“, erinnert sich Petra Witte. „Irgendwann wusste ich, so geht es nicht mehr weiter.“ Petra Witte suchte für ihre Mutter die Alten-WG. Dort kümmert sich Pflegepersonal rund um die Uhr. Sie bei sich zu Hause zu versorgen, sei keine Lösung. „Der Umgang mit Demenz-Kranken ist sehr schwierig“, sagt Petra Witte. Das sei ein 24-Stunden-Job. „Das würde ich nicht schaffen.“
Wenn Barbara Witte und Julia Pohl gemeinsam Musik machen, blüht die elegante Dame auf. Dann wird wieder gelacht und gesungen. Es ist eine Zeit, in der die 92-Jährige lebendig wird. Barbara Witte war früher Fernseh- und Radiomoderatorin und stand auch als Sängerin auf der Bühne.
Es muss ein eigenständiges Musikgedächtnis geben, das nicht von Plaque-Ablagerungen durch Alzheimer betroffen ist
„Musik funktioniert wie ein Schlüssel”, sagt Carsten Finke von der Berliner Charité und der Berlin School of Mind and Brain. Der Neurowissenschaftler hat sich eingehend mit der Wirkung von Musik auf das menschliche Gedächtnis beschäftigt. „Bei Menschen, die sich an nichts mehr erinnern können, ruft die Musik plötzlich wieder Erinnerungen wach“, sagt Finke. „Sie spricht unsere Emotionen an.“ Momente, die für uns emotional wichtig sind, blieben uns länger im Gedächtnis. Finke bringt gern das Beispiel des 11. Septembers. Auch, wenn es kein Schönes ist, sagt er. „Fast jeder weiß noch, was er an dem Tag, an dem die Flugzeuge in das World Trade Center rasten, gemacht hat.“ Musik aktiviere positiv und emotional – „genau diese Verbindung funktioniert!“, sagt Finke. Besonders bei Menschen, die eine autobiografische Verbindung zur Musik haben wie Barbara Witte.
Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern untersuchte Finke das Gedächtnis eines Cellisten, der nach einer Herpes-Infektion unter einer schweren Gedächtnisstörung litt. Der damals 68-Jährige hatte hauptberuflich an verschiedenen Orchestern gespielt. Nach seiner Erkrankung konnte er sich an fast nichts mehr erinnern, weder an seine Kindheit oder Jugend, noch an Erlebnisse als Erwachsener. Während seiner Karriere als Cellist hatte er sich ein komplexes Wissen über berühmte Cellisten und Komponisten angeeignet. Doch alle Erinnerungen schienen verloren. Allerdings erkannte der Mann alte Musikstücke wieder, er konnte Noten lesen und sogar Cello spielen. Aus dem Ergebnis ihrer Untersuchungen schlossen Finke und seine Kollegen, dass Musik in anderen Gedächtnisregionen verarbeitet werden muss, es also ein eigenständiges Musikgedächtnis geben müsse.
Eine weitere Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig konkretisierte Finkes Ergebnisse. Darin untersuchten Forscher zunächst das Gehirn von jungen Menschen. Sie spielten den Probanden verschiedene Musikstücke vor; bekannte, kürzlich zum ersten Mal gehörte und unbekannte Lieder. Durch Magnet-Resonanz-Tomographien (MRT) sahen die Wissenschaftler, welche Gehirnbereiche bei welchen Liedern aktiv wurden.
„Die für Musikerinnerungen wichtigen Informationen werden in dem vorderen cingulären Kortex (kaudale anteriore cinguläre Gyrus) und dem supplementär-motorischen Areal verarbeitet“, erklärt Jörn-Henrik Jacobsen, der an der Studie wesentlich beteiligt war. Wie auch schon Finke und seine Kollegen erkannten die Wissenschaftler, dass Musik in Bereichen des Gehirns verarbeitet wird, die für das Erinnern eigentlich gar keine Rolle spielten. Vielmehr liegen hier bekannte Bewegungsabläufe, wie zum Beispiel Fahrradfahren.
„Die meisten Musikstücke hängen von Erwartungssequenzen und deren Erfüllung ab. Dazu gehört auch die Sequenzplanung und ihre Bewertung“, erklärt Jacobsen das Ergebnis. Es sei daher plausibel, dass diese Regionen für die Bildung des Musikgedächtnisses von grundlegender Bedeutung sind.
In einem zweiten Schritt untersuchten die Forscher dann genau diese Gehirnregion bei Alzheimer-Patienten und erkannten, dass die Regionen im Vergleich zum restlichen Gehirn weitestgehend von den bei Alzheimer auftretenden Plaque-Ablagerungen verschont geblieben waren – selbst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium.
Welche Musik?
„An der Stelle geht das Gehirn nicht so schnell kaputt“, fasst Petra Witte die Erkenntnisse der Wissenschaftler zusammen. Die gelernte Ärztin hat sich viel über Alzheimer-Demenz informiert, seitdem ihre Mutter erkrankte. Zu sehen, dass sich Barbara Witte in der Alten-WG nicht wohl fühlt, breche ihr das Herz. Und in der WG sei es immer noch besser als in einem Altenheim, sagt Petra Witte. „Immerhin gibt es Julia.“ Petra ringt sich ein Lächeln ab.
Zur Altenarbeit kam Julia Pohl eher zufällig. Kurz, nachdem sie die Ausbildung zur Gestalt- und Musiktherapeutin beendet hatte, bat eine Freundin sie in einer Alten-WG zu vertreten. Pohl sagte spontan zu – und blieb bei der Arbeit. Sie erlebe bei ihren Besuchen immer wieder neue, überraschende Momente. „Was da manchmal wieder hervorkommt“, sagt Pohl begeistert. Mit Barbara Witte singe sie Lieder in drei Sprachen. Die 92-Jährige erzählt dann von ihren Bühnenauftritten. „Die Musik gibt Demenzkranken ein Gefühl der Sicherheit“, erklärt Pohl. „Ein Gefühl von ‘Hier bin ich richtig. Hier kann ich mich entspannen.’“
„Die Alten wissen, was sie noch können und was nicht. Und sie haben Angst davor, dass ihnen nichts mehr gelingt.“
Petra Witte hat mit ihrer Mutter auch schon andere Therapien ausprobiert, erzählt sie. „Ich wollte mal mit ihr malen.“ Pinsel, Farbe, alles hätte sie besorgt. Aber ihre Barbara Witte wollte nicht. „Die alten Menschen sind nicht so blöd, wie wir denken“, sagt Tochter Witte. „Sie wissen, was sie noch können und was nicht. Und sie haben Angst.“ Angst davor, dass ihnen nichts mehr gelingt.
Musik aber gelingt Barbara Witte noch. Nach der Stunde mit Pohl möchte die Berlinerin gern nach Hause. „Wer sind die denn hier alle?“, fragt sie verärgert. Ein Zustand, den Tochter und Pflegepersonal kennen. In der Musikstunde ist Barbara Witte eine andere. Dann ist sie so, wie Tochter Petra ihre Mutter in Erinnerung hat: aufgeweckt und voller Leidenschaft. „Sie liebte ihren Beruf.“ Petra Witte wird traurig. „Ich bekomme manchmal diese zwei Menschen nicht mehr zusammen“, sagt sie in ihren Gedanken verloren. Ihre Mutter heute und damals. Das mache ihr Angst.
Therapeuten nutzen die Musik als Schlüssel, auch um mit Demenzkranken in Kontakt zu treten. „Wenn die Sprache nicht mehr funktioniert, kann die Musik dabei helfen zu ordnen“, sagt Michael Bäßler. Der Musiktherapeut arbeitet im Nikolaus-Cusanus-Haus in Stuttgart. Manche Menschen, die aufgehört haben zu sprechen, singen plötzlich alle sechs Strophen eines Liedes – das erlebe Bäßler in seiner Arbeit häufig. „Bei Menschen, die im Alter eingeschränkt sind, kann man mit Musik und Klängen viel erreichen“, sagt er.
Aber nicht nur über das Singen tritt der 29-Jährige in Kontakt. „Man kann auch rhythmische Übungen machen, zum Beispiel bei Menschen, die einen Schlaganfall hatten. „Es gibt viele Richtungen, die den Alltag angenehmer gestalten.“
Für Neurowissenschaftler Finke könnte Musik Alzheimer-Patienten auch in bestimmten Alltagssituationen helfen. „Immer wenn dieses Musikstück kommt, ist zum Beispiel die Medikamenteneinnahme an der Reihe.“ So könnte man Musik als eine Art Gedächtnisstütze in den Alltag integrieren, erklärt er.
Im „Haus Ingrid“ sind die letzten Musiktöne inzwischen verklungen. Frank Bokemeyer packt seine Instrumente zusammen. Eine Frau in geblümter Bluse und Pantoffeln an den Füßen sitzt in einem Rollstuhl in der hinteren Ecke des Saals. „Wie hat Ihnen die Musik gefallen?“, fragt Bokemeyer. Die Frau blickt ihn irritiert an. „Welche Musik?“ Dass der Mann mit Fliege und Zylinder manchmal selbst schnell wieder in Vergessenheit gerät, daran habe er sich gewöhnt, sagt der 53-Jährige. Seit über fünf Jahren steht er inzwischen in Altenheimen oder bei Geburtstagen auf der Bühne und singt Lieder der 20er und 30er Jahre. Für ihn ist der Beruf zur Lebensaufgabe geworden. „Das gibt einem so viel“, sagt der ehemalige Schauspieler. Vor allem aber nehme ihm das Publikum selbst die Angst vorm Altern.
Über die Alzheimer-Demenz
Laut der Deutschen Alzheimergesellschaft lebten 2016 fast 1,6 Millionen Demenzkranke in Deutschland. Zwei Drittel davon leiden an Alzheimer. Die meisten von ihnen sind 85 Jahre und älter. Da die Zahl alter Menschen laut den Prognosen von Demografen in den nächsten Jahren weiter ansteigen wird, rechnet der Verein bis zum Jahr 2050 mit bis zu drei Millionen Demenzkranken, sofern kein Durchbruch in der Therapie gelingt.
Alzheimer ist die häufigste Form der Demenz, benannt nach dem Neurologen Alois Alzheimer (1864 - 1915). Bei der hirnorganischen Krankheit lagern sich bestimmte Eiweißstoffe, sogenannte Beta-Amyloide in den Nervenzellen an, die im Laufe der Krankheit verklumpen. Die Nervenzellen werden zerstört und mit ihnen die für den Informationsaustausch wichtigen Übertragungsstellen. Die Gehirnmasse beginnt sich zu verkleinern.
Bei den Betroffenen kommt es zu Orientierungslosigkeit, Sprachstörungen und Erinnerungsverlust. Auch die Persönlichkeit verändert sich.
Im ersten Stadium der Demenz (lateinisch dementia: „ohne Geist“) ist Betroffenen die Krankheit noch nicht bewusst. Bei Vergesslichkeit oder Orientierungslosigkeit reagieren sie häufig aggressiv oder ziehen sich zurück. Der Verlust ihres Denk- und Sprachvermögens ist ihnen unangenehm. Sie versuchen ihn vor anderen zu verstecken.
Im zweiten Stadium geht mit dem fortschreitenden Gedächtnisverlust auch das Bewusstsein über die eigene Krankheit verloren. Unruhe steigt auf, nicht selten kommt es zu Wahnvorstellungen. War zunächst nur das Kurzzeitgedächtnis von Demenz betroffen, verblassen langsam auch die Erinnerungen an länger zurückliegende Ereignisse wie die Hochzeit oder den Beruf. Demenzkranke können häufig keine ganzen Sätze mehr bilden. Andere verstehen sie schwer.
Im schwersten Stadium der Demenz geht neben Erinnerungsverlust, Orientierungs- und Sprachstörungen auch die Kontrolle über den Körper verloren. Der starke geistige Abbau führt dazu, dass die Sprache nur noch aus wenigen Wörtern besteht. Häufig müssen Alzheimer-Betroffene im Rollstuhl sitzen oder sind bettlägerig. Krampfanfälle und Schluckstörungen treten auf. Das Immunsystem ist geschwächt. Die Betroffenen sind wenig belastbar.
Am Ende führt nicht die Krankheit selbst zum Tod. Meist sterben die Betroffenen an einer Infektionskrankheit.
Hintergrund: Auf das Thema kam Anna durch Zufall. Sie saß Frank Bokemeyer in der S-Bahn gegenüber und hat ihn bei einem Gespräch mit einem alten Schulfreund „belauscht“. Frank erzählte über seine Auftritte in den Altenheimen und für Anna war klar: Darüber muss ich schreiben. Christoph wiederum stieß auf einen wissenschaftlichen Artikel zum Einfluss von Musik auf Menschen mit Demenz; vor seinem inneren Auge sah er die Gesichter und Geschichten, die sich hinter empirischen Erkenntnisse verbergen könnten. Christophs Großmutter war selbst durch Demenz verstummt – beim Vorspiel einer Bach-Suite aber stiegen ihr Tränen in die Augen. Über den Neurologen Carsten Finke kamen Anna und Christoph in Kontakt. Gemeinsam führten sie die Interviews mit verschiedenen Musiktherapeuten in Berlin und Stuttgart.
Redaktion: Fabian Stark