Die Mongol Rally ist eine jährlich stattfindende Parforce-Tour von London nach Ulaanbaatar, Mongolei. Innerhalb von knapp zwei Monaten durchquert man dabei den gesamten eurasischen Kontinent im Opel Corsa (oder etwas vergleichbar Unbequemen). Im Sommer 2016 geht unsere Autorin Magd Lhroob mit an den Start der Mongol Rally, mit einer Gruppe aus ihr mehr oder minder gut bekannten Studienkollegen. Außer ihr sind nur zwei andere Mädchen dabei, und die verlassen die Reisegemeinschaft nach einem Bruchteil der Strecke. Dies ist Magds Geschichte.

Wenn Jungs sich an den Straßenrand stellen und pinkeln, waschen sie danach nicht ihre Hände. Wenn etwas von deinem Essen herumliegt, nehmen sie es sich – dieselben Hände, die gerade noch an ihren Schwänzen waren, sind jetzt ungewaschen in deinem Essen. Wenn du dich beschwerst und netterweise dein Desinfektionsmittel anbietest, bist du für sie eine Schlampe.

Jungs werden anders, wenn sie ganz unter sich sind – oder wenn du das einzige Mädchen weit und breit bist. Sie verpassen sich Spitznamen: Teddy ist „Teebeutel“, James mit der Erdnussallergie „Nut Sack“. Sie sind ständig am Zanken und bedauern ausführlich, dass sie nirgends wichsen können. Wenn du sie dabei unterbrichst und darum bittest, an einer Stelle mit genug Gestrüpp kurz ranzufahren, damit du auch mal pinkeln kannst, bist du eine Schlampe.

Du musst pinkeln. Ständig musst du pinkeln. Deine Blase, das hast du gelernt, ist viel kleiner als die von den Jungs. Du hältst es zurück, obwohl der Schmerz grässlich ist, als würden dir die Eingeweide platzen. Zweieinhalb Stunden lang sagst du nichts, wie du dort auf dem Rücksitz eines Autos sitzt, das sie „Call Girl“ genannt haben. Du versuchst, dich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, wie die schöne Landschaft da draußen vorm Fenster. Du hast großes Glück, hier zu sein, ermahnst du dich. Das hier ist ein riesiges Abenteuer, sagst du zu dir selbst.

Auf dem Weg durch Kasachstan, irgendwo zwischen Almaty und der russischen Grenze
Mike Norton

Auf dem Weg durch Kasachstan, irgendwo zwischen Almaty und der russischen Grenze

Aber unter der Dusche weinst du oft. Du rufst deine Mutter an und weinst, und deine Mutter hat kein Mitleid. „Warum verreist du auch mit 19 Jungs?“, fragt sie. Du weißt nicht, was du ihr antworten sollst, also legst du auf. Wenn du die Reise abbrichst, haben die Jungs gewonnen.

Und Jungs gewinnen immer. Als du jünger warst, hast du gelernt deinen Körper zu verbergen, ihn mit der richtigen Menge an Kleidung zu bedecken, damit deine flache Brust nicht auffällt; sie würden dich nicht wollen. Du hast gelernt zu lächeln, gelernt, dass dein Wert davon abhängt, ob sie dich wollen, gelernt ja zu sagen, falls sie die Eier haben, dich um ein Date zu bitten. Die Höflichkeit verlangt es, Ja zu sagen.

Also hast du Ja gesagt, im College, obwohl du nicht wolltest. Ihn nicht ansehen wolltest, oberkörperfrei, mit all den Haaren auf seinen Schultern und unten auf seinem gewölbten Bauch. Also hast du Nein gesagt, doch zu spät. Du hattest Ja gesagt, und ihm hat man gesagt, er hätte ein Recht darauf. Später bist du mit ihm zusammen, irgendwann schießt du ihn schließlich. Erst Monate später, nachdem er einfach nicht aufhört, dich zu behelligen, zeigst du ihn endlich an.

Das ist Jahre her. Du denkst nicht mehr an ihn oder an das, was er getan hat. Dein Leben ist aufregend, ereignisreich. Jetzt machst du einen Roadtrip von England in die Mongolei. Du bist dabei. Du bist einer von ihnen.

Einer von ihnen ist heiß. Er ist der Teammechaniker, und er weiß, dass er heiß ist. „Ich ficke alles“, sagt er zu dir, als ihr zusammen das Zelt aufbaut. Also hütest du dich davor, mit ihm zu flirten. Du willst nicht gefickt werden. Du willst nicht angefasst werden. Du willst dieses sagenhafte Abenteuer genießen und heil in der Mongolei ankommen. Aber als er dir beibringt, wie man ein Auto mit Kupplung fährt, legt er seine Hand auf deine, drückt er seine Haut auf deine. Du weißt nicht, wohin mit der Hand. Sogar als du den Schweiß seiner Handfläche klebrig auf deinen Knöcheln fühlst, lächelst du noch.

Ein Morgen in Turkmenistan, im Campinglager auf einem Baumwollfeld
Mike Norton

Ein Morgen in Turkmenistan, im Campinglager auf einem Baumwollfeld

Eines Nachts fordert dich der Teammechaniker, betrunken, auf, deinen Teil zur Unternehmung beizutragen, indem du ihm eine Rückenmassage gibst und seinen Schwanz lutschst. Du bekommst Flashbacks – und sie bleiben. Nacht für Nacht kehrst du jetzt in den Raum zurück, in dem du versucht hast Nein zu sagen. Unfähig zu schlafen, wirst du reizbar.

Je reizbarer du wirst, desto mehr hassen dich die Jungs. Du versuchst, dich zu erklären, und es klappt nicht. Du beginnst Sätze, die sagen, dass du nicht mehr in einem Auto mit dem Teammechaniker sitzen willst, und beendest sie nicht. Du änderst deine Taktik. Du bist hilfsbereit, wo du nur kannst. Sammelst den Müll in den Autos auf. Bietest ihnen etwas von deinem Essen an, von dem sie sich eh genommen hätten. Wenn du ihr Flüstern hörst, weißt du: Es ist dir nicht gelungen.

Du bist jetzt seit zwei Wochen mit ihnen unterwegs, bist durch ein Dutzend Länder gefahren und siebenundzwanzig Mal liegen geblieben. Mit einem Mal begreifst du, weshalb sie dich hassen, und kannst es nicht ändern. Du bist nicht einer von ihnen.

Du bist kein guy’s gal. Du bist, wie sie dich wiederholt wissen lassen, eine Schlampe.

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Und in einen von ihnen verliebst du dich. Nicht in den Teammechaniker, der sich für die Aufforderung, seinen Schwanz zu lutschen, dreimal bei dir entschuldigt hat. Nicht in den Marshall-Stipendiaten, der auf unheimliche Weise einer Ken-Puppe ähnelt, der dir sagt, du solltest einfach nicht auf den Teammechaniker achten. Du verliebst dich in den, der wie eine jüngere Version deines Großvaters aussieht – bebrillt und gelehrt. Er flucht nie, und nie beklagt er den fehlenden Raum zum Wichsen. Er stellt die Musik leiser, wenn du ein Nickerchen machst. Auf seinem Telefon hat er die Poetry App. Wenn er mit dir spricht, hört er dir auch zu.

Du bist überrascht davon, wie sehr du ihn magst. Du hast dich in seine Klugheit verliebt, in seine Manieren, sein lauthalses Lachen. Jedes Mal, wenn er sich zum Zeichnen über seinen Laptop beugt, willst du dich an ihn lehnen und deine Wange an seinen Rücken pressen, deine Arme um ihn schlingen. Intimität willst du, und gespürt werden, nicht angefasst.

Und von ihnen akzeptiert werden willst du auch. Du verzeihst dem Teammechaniker. Du wünschtest, du könntest weniger reden. Weniger zweifeln. Dich weniger beschweren. Ein guy’s gal macht so was nicht. Ein guy’s gal bezweifelt nicht das, was ein Junge sagt. Ein guy’s gal versucht nicht, witzig zu sein. Ein guy’s gal achtet auf sein Äußeres, spricht aber nie über sein Äußeres. Ein guy’s gal lässt einen Jungen sich niemals dumm vorkommen. Ein guy’s gal ist warm und energetisch. Ein guy’s gal ist nicht aufdringlich. Ein guy’s gal ist hilfsbereit. Ein guy’s gal trinkt mit den Jungs ein Bier.

Mach, was du willst, du bist kein guy’s gal. Du bist, wie einige dich wiederholt wissen lassen, eine Schlampe.

Am Straßenrand in Usbekistan: zwischen Khiva und Samarkand
Mike Norton

Am Straßenrand in Usbekistan: zwischen Khiva und Samarkand

Du hast Tagträume übers Essen. Du isst kein Fleisch. In den Restaurants, die außer Fleisch nichts haben – die einzige Art von Restaurant, in das die Jungs gehen – isst du Brot und Joghurt. Wenn du mal keine Qualen leidest, weil du pinkeln musst, versuchst du, nicht an den stechenden Hunger zu denken. An Tankstellen kaufst du Twix-Riegel. Noch an der Kasse stopfst du sie dir in den Mund, damit dich keiner auffordert, ihm davon abzugeben.

Die Motoren können abkühlen: Nachtruhe.
Mike Norton

Die Motoren können abkühlen: Nachtruhe.

Für Turkmenistan bekommst du kein Visum. Plötzlich sind alle weg, auf einer Fähre über das Kaspische Meer, ohne dich. Weinend rufst du deine Freundin an: „Haben sie jetzt gewonnen?“

„Scheiß auf sie“, sagt sie dir.

Für sie bedeutet das: Reise ab. Für dich bedeutet das: Zieh es durch. Du buchst einen Flug nach Usbekistan. Dort wirst du dich mit ihnen treffen, sobald sie durch Turkmenistan durch sind.

In einem usbekischen Hotel bekommst du Ausschläge. Du hast keine Allergien, von denen du wüsstest. Dein linkes Auge schwillt an, dessen Lid wird so schwer, dass es sich nicht mehr öffnen lässt. Der Ausschlag weitet sich aus, an beiden Seiten herab, auf Rücken und Nacken, roten# Flecken zwischen deinen Beinen. Kleine, wie Mückenstiche aussehende Stellen brechen auf deinen Armen und im Gesicht überall durch deine Haut. Du bemerkst nicht, dass dein Körper Krieg führt – gegen sich selbst.

Du hast kein Antihistaminikum dabei, du hast es bei den Jungs im Auto gelassen. Hast deine Spritzen bei den Jungs im Auto gelassen. Du glaubst, dass du sterben wirst, und zeigst dem Hostelbetreiber dein Testament.

Du stirbst nicht. In der einzigen internationalen Klinik Zentralasiens stellst du fest, dass du elf Kilo abgenommen hast. Du stellst dich noch einmal auf die Waage, um sicherzugehen. Du subtrahierst im Kopf. Ja, elf Kilo.

Zu viel Stress, sagt der Arzt. Dir werden mehrere Diphenhydramin-Spritzen verabreicht, du wirst an einen IV-Beutel gestöpselt und ins Krankenhaus zurückgeschickt.

Du schreibst den Jungs eine Nachricht. Keine Genesungswünsche, nichts. Drei Tage später sitzt du achtzehn Stunden lang in einem fensterlosen Zug durch die Wüste, um sie in Khiva zu treffen. Euer Wiedersehen ist freudlos.

Nicht mehr weit: Fahrt durch die mongolische Steppe
Mike Norton

Nicht mehr weit: Fahrt durch die mongolische Steppe

Du kriegst den Bogen raus. Wenn ein Mädchen nicht spricht, tolerieren es die Jungs. Du nimmst dich zurück. Du machst keine Bemerkungen darüber, wieviel Beinfreiheit sie sich im Auto herausnehmen. Du beschwerst dich nicht über die größeren Portionen, die sie sich beim Essen nehmen. Du bittest nicht darum, dass für dich zum Pinkeln angehalten wird. Du zuckst nicht einmal, wenn sie ihre Nägel schneiden und ein Nagel auf deinen Beinen landet.

In einem Kornfeld streift sein Bein deines. Und es gefällt dir. Du fühlst, wie er eine Spur näher rückt, und dann küsst er dich. Du denkst: Der Kuss ist unsauber. Du denkst: Du hast deine Periode. Du denkst: Ihr beide habt den ganzen Tag lang geschwitzt. Du denkst: Vielleicht seid ihr körperlich nicht kompatibel.

Du sagst ihm, dass du nicht mit ihm schlafen wirst, und er sagt, das sei okay. Und du glaubst ihm.

Später teilt ihr ein Zelt. Es ist eng, selbst für nur zwei Leute, was ideal erscheint. Es ist kalt, so kalt, dass die Kühle durch alle deine vier Schichten dringt. Du willst, dass er dich hält, und er tut es. Bis er anfängt, am Reißverschluss deiner Jacke zu ziehen. Du kicherst, er lächelt, und jede Schicht, die er dir abnimmt, drängt dich zu ihm hin. Er ist deine einzige Wärmequelle. Dein freier Oberkörper zittert an seinem. Du denkst: Wie leicht er dich zerdrücken könnte. Du denkst: Sie alle wollen das gleiche. Du denkst: Aber er ist anders.

Du bist fast eingeschlafen, als er deine Hand nimmt und zu seinem Unterleib führt.

Das Ende: die offizielle Zielline, die die wenigsten Rally-Teilnehmer mit eigenen Augen sehen
Mike Norton

Das Ende: die offizielle Zielline, die die wenigsten Rally-Teilnehmer mit eigenen Augen sehen

Du bringst die Reise nicht zu Ende. Der Ausschlag setzt wieder ein, diesmal um zwei Uhr nachts in einem Zeltlager, das drei Stunden von der nächstgrößeren Stadt entfernt ist. Entzündet wachst du auf, das vertraute Jucken an deinem Hals. Du hebst dein T-Shirt an und siehst das Rot um deinen Bachnabel. Du gerätst in Panik, obwohl du nicht solltest; im Auto liegt das Diphenhydramin.

Du strampelst dich aus deinem Schlafsack. Barfuß schleichst du zum Auto, voller Angst, die Jungs aufzuwecken. Du ziehst am Türgriff. Abgeschlossen. Du wirst sie wecken müssen.

Am nächsten Morgen schlägt dir der Teamleiter vor, den nächsten Flug nach Hause zu nehmen. „Was, wenn das in der Mongolei passiert?“, fragt er.

„Es ist zu gefährlich, weiterzumachen“, sekundiert der Marshall-Stipendiat, der auf unheimliche Weise einer Ken-Puppe ähnelt.

„Wir fahren dich zum Flughafen“, sagt der Teammechaniker.

„Ich hoffe, ich sehe keinen von euch je wieder.“ Sagst du nicht.

Stattdessen dankst du ihnen.

Übersetzung und Redaktion: Jakob Hinze