
Die neue Underground Railroad
Tausende Sklaven türmten im 19. Jahrhundert mit der Underground Railroad aus den US-Südstaaten in den Norden. Auch heute helfen Menschen anderen Menschen über Grenzen, und nicht alle sind Zyniker und Seelenfänger: Syrische Schleuser fälschen ohne viel Aufhebens Pässe, deutsche Mittelständler retten Ertrinkende aus dem Mittelmeer – weil es sonst niemand tut.
I travelled on three days and nights, suffering for want of food. When I was passing through Orangetown, in Pennsylvania, I went into a shop to get some cake. Two men followed me with muskets. They took me, and were going to carry me before a magistrate. By and by, watching my chance, I jumped a fence and ran. They were on horseback. I got into a piece of woods,–thence into a wheat field, where I lay all day; from 9 a.m. until dark. I could not sleep for fear. At night I travelled on, walking until day, when I came to a colored man’s house among mountains. He gave me a good breakfast, for which I thank him, and then directed me on the route. I succeeded, after a while, in finding the underground railroad.

Ein Plakat warnt vor Sklavenfängern. Im Norden der USA war Sklaverei zwar verboten. Doch auch dort befahl das Fugitive Slave Law ab 1850, geflohene Sklav*innen zurück auf die Plantagen im Süden zu bringen. Über diesen Weg verkauften Sklavenjäger auch freie Schwarze in den Süden. So radikalisierte sich im Norden der Protest, etwa auf den Straßen Bostons oder Pittsburghs. Die greise Aktivistin Harriet Tubman führte 1860 zum Beispiel eine Meute von Schwarzen und Weißen an, die mit Keulen und Ziegeln den Sklaven Charles Nalles aus dem Gericht von Troy, New York befreiten. Eine Flucht nach Kanada war sicherer als die in die Nordstaaten.
Die Underground Railroad war weder Eisenbahn noch unter Tage, sondern Metapher: Ihre Schienen waren die Fluchtwege durch Felder, Wälder und über den Ohio River. Ihre Bahnhöfe waren die Häuser derer, die Unterschlupf gewährten. Ihre Zugführer waren die Helfer, Schwarze wie Weiße, die den Weg wiesen, nach Sklavenjägern spähten und später auch Plantagen stürmten.
Auch heute helfen Netzwerke samt Schutzhäusern, Trucks, Booten und Schmuggelrouten, Menschen über Grenzen zu bringen – Menschen aus den Ländern des Globalen Südens¹, die im Norden nach einem sicheren und lebenswerten Leben suchen. Kriegsvertriebene aus Syrien, Irak, Kongo oder Nigeria, politisch Verfolgte aus Eritrea, Sudan oder Serbien. Menschen aus Gegenden, die arm sind, weil wir reich sind.
Leider sind die Netzwerke heute oft nicht von Idealismus und Solidarität geprägt wie die Underground Railroad. Im Gegenteil: Sie sind ein Millionengeschäft, das Migranten zur Ware abwertet. Menschenhändler in Zentralafrika lassen Flüchtlinge auf dem Weg durch die Sahara verdursten, kriminelle Banden entführen sie auf dem Sinai, um Lösegeld zu erpressen oder ihnen gar Organe zu entnehmen, und nordafrikanische Schlepperkartelle schicken ihre menschliche Fracht auf überladenen, schrottreifen Kuttern in den nassen Tod. Sie alle verdienen sich eine goldene Nase. Doch ihr Geschäft blüht nur, weil die Europäische Union andere Wege versiegelt.
Aber es gibt Ausnahmen: aktivistische Fluchthelfer, moderne Abolitionisten, subversive Netzwerke grenzüberschreitender Solidarität. Syrische Schleuser, die ihren Landsleuten mittels gefälschtem Pass einen sicheren Weg in die EU ermöglichen, ohne dafür mehr Geld zu nehmen als nötig. Junge Aktivisten, die versuchen illegalisierte Migranten vor polizeilicher Verfolgung zu schützen. Deutsche Mittelständler, die viel Geld und Zeit investieren, um vor Lampedusa eine Seenotrettung zu organisieren – weil es sonst niemand tut.
SOS Mittelmeer +334-86-51-71-61
Father Mussie Zerai ist aus Eritrea geflüchtet und heute Priester im schweizerischen Fribourg. Jeder Flüchtling, der sich auf das Mittelmeer begibt, kennt seine Nummer. Oft rufen Boatpeople ihn an, bevor sie die Küstenwachen alarmieren – die hatten sich häufig zu viel Zeit für die Rettung gelassen.
Seit Oktober 2014 kann Father Mussie die Notrufe aus dem Mittelmeer an einen Generalstab von Aktivisten weiterleiten. Denn ein Jahr nach dem großen Unglück vor Lampedusa – dem als einem von vielen noch größere folgen sollten – ging das Alarmphone ans Netz. Einen solchen Notruf vom 16. April 2015 dokumentieren wir hier.
10.15 Uhr
Beim AlarmPhone geht ein Notruf ein.
Nachricht von Father Zerai: Ich habe einen SOS-Ruf von Geflüchteten auf einem Schlauchboot erhalten. Etwa 80 Personen, davon 28 Frauen, manche davon schwanger, und Kinder. Das Boot verliert Luft, die Menschen haben Angst um ihr Leben. Sie sind etwa acht bis neun Stunden von der libyschen Küste entfernt. Satelliten-Telefon an Bord: +8821…..6168. Rettung dringend erforderlich.
10.42 Uhr
Nachricht vom Alarmphone an die Leitstelle der italienischen Seenotrettung in Rom.
Betreff: SOS vom Mittelmeer, Thuraya +88 21…..6 168 (Thuraya bezeichnet ein Satelliten-Telefonnetz, Anm.d.Red.) Wir haben eine neue Position des Bootes erhalten: Koordinaten: N° 33’… E° 13’… Die Menschen auf dem Boot sind besorgt, da der Schwimmkörper Luft verliert. Sie bitten dringend um Hilfe.
11.41 Uhr
Anruf der Boatpeople beim AlarmPhone:
Bisher ist hier kein Schiff in Sicht. Der Motor arbeitet noch, aber das halbe Boot ist unter Wasser. Bitte drängt die Polizei zur Rettung.
12.30 Uhr
Anruf der Boatpeople beim AlarmPhone:
Boatpeople: Immer noch kein Rettungsschiff in Sicht. Die Sonne brennt, unser Boot verliert mehr Luft. Wir sind wirklich in Panik. Bitte, könnt ihr einen Hubschrauber anfordern?
Alarmphone: Wir tun unser Bestes, ich werde Rom noch mal anrufen und nachfragen. Bitte versucht die Leute zu beruhigen, verfallt nicht in Panik. Ihr müsst Geduld haben, ein Rettungsschiff sollte innerhalb der nächsten Stunde bei euch sein. Bleibt stark.
Hier endet der Kontakt des Alarmphone-Teams mit dem Flüchtlingsboot. Der Fall nahm dennoch ein glückliches Ende: Watch the Med überwies zusätzliches Geld auf das Satellitentelefon der Boatpeople und hielt den Kontakt zur italienischen und maltesischen Küstenwache. Die 80 Menschen auf dem Boot konnten gerettet werden.

Rettung auf eine Insel der Sea Watch
Seenotrettung selbstgemacht
Es ist der 28. August 2015. Es geht ein Tag zu Ende, der anders ist als alles, was wir bisher erlebt haben. Heute Vormittag hat der Ausguck auf der Sea Watch gleich mehrere Boote in Seenot gesichtet, und die Crew hat die letzten Rettungsinseln verbraucht. 2.000 Kilometer entfernt, im Hinterhof einer kleinen Werft in Amsterdam, haben wir dann alte Inseln in einen Transporter geladen. Bereits morgen werden diese auf dem Weg nach Lampedusa sein. Unser Schiff braucht dringend Nachschub.
Insgesamt rettet unsere Crew an diesem Tag über 500 Menschen von fünf Schlauchbooten. Um 23 Uhr mitteleuropäischer Zeit bange ich auf der Couch von Amsterdamer Freunden, als mich das Satellitentelefon erlöst: „Alle safe an Bord der CP 906, Einsatzende.“ Die Schiffbrüchigen sind sicher bei der italienischen Küstenwache.
Die Sea Watch erlebt jedoch nicht nur ihren bis dato größten Rettungseinsatz, sondern auch die ersten Toten: zwei Personen von einem Schlauchboot, das bereits seit Tagen orientierungslos umherirrte. Sie sind an Entkräftung gestorben, unsere Ärzte können nicht mehr helfen. Doch sie zeigen uns auch, dass wir mit unserem Schiff genau richtig sind in der Search and Rescue Zone vor Libyen. Den beiden Toten stehen in der Bilanz der bisherigen Einsätze über 1.700 Gerettete gegenüber. Einige von ihnen hätten die Überfahrt wohl nicht überlebt, wäre die Sea Watch nicht vor Ort gewesen.
All das habe ich mir nicht vorstellen können, als ich im Januar zum ersten Mal vor dem 21 Meter langen und 100 Jahre alten Kutter stand – alles war nur eine Idee. Als wir im April die Elbmündung hinauffuhren und Harald Höppner, der sein Firmenvermögen in das Schiff investiert hatte, bei Günther Jauch eine Schweigeminute für die auf dem Mittelmeer Gestorbenen ausrief und sagte: „Wir fahren jetzt da runter und retten die Leute!“ – da war ich mir nicht sicher, ob wir nicht zu hoch gepokert hatten. Während der Überfahrt hörten wir oft, wir würden selbst untergehen, bevor wir das Mittelmeer erreichen. Im Juni ging ich als Crewmitglied zum ersten Einsatz an Bord, und noch schallten die Worte des Küstenwachen-Kommandanten in meinem Ohr: „Pazzi“ hatte er uns genannt, „Verrückte“. Und ich dachte mir: „Recht hat er!“ Natürlich ist es verrückt, was wir tun. Doch wie Harald sagte: „Wären wir vernünftig, wären wir jetzt nicht hier.“
Tatsächlich wusste keiner von uns, ob das Einsatzkonzept der Sea Watch aufgehen würde – noch dazu mit unserem alten, notdürftig umgebauten und reparierten Kutter. Unser Plan: in den Gewässern vor der libyschen Küste nach Booten in Seenot Ausschau halten und Hilfe holen. Die Rettungsinseln an Bord waren nur für den Notfall gedacht. Bereits nach dem zweiten Einsatz waren sie aber aufgebraucht und mussten ersetzt werden.
Heute nennt uns niemand mehr „Pazzi“. Die italienische Küstenwache berichtete der Presse gar, dass sie der Sea Watch am 28. August bei der Rettung von über 450 Menschen half.
Ruben Neugebauer ist TONIC-Fotograf und Gründungsmitglied des Sea-Watch e.V.. Er macht dort die Pressearbeit und sucht mit nach einem neuen Schiff. Neben der Sea Watch beobachten drei Schiffe von Ärzte ohne Grenzen und der Migrants Offshore Aid Station (MOAS) aus Malta als zivile Seenotrettungsprogramme die Gewässer vor Libyen.

Am Hafen von Calais: Flüchtlinge verstecken sich in Lkws nach England.
Calais Migrant Solidarity
“One person from Afghanistan was beaten with sticks on the head and stabbed in the torso … Three persons from Sudan were attacked by 4 fascists … at 1 o’clock one person from Germany was intentionally run over by a grey twingo … a body of an unknown person was found dead on the A16..”.
Der Blog liest sich wie die Blaulichtmeldungen eines sehr verruchten Ghettos einer noch verruchteren Großstadt. Doch die Vorfälle spielen in einer beschaulichen 70.000-Einwohner-Stadt am Ärmelkanal: Calais, Nord-Frankreich. Calais ist ein Symbol der Festung Europa – ein Lampedusa im Herzen der Union. Wie im Mittelmeer treten auch hier nur wenige an, um die Menschlichkeit zu verteidigen. Wie im Mittelmeer ist die Politik selten unter ihnen.
Jedes Jahr stranden Tausende Sans-papiers, zu Deutsch „Papierlose“ nur wenige Kilometer vor England entfernt in der Küstenstadt. Die meisten von ihnen haben bereits die Sahara, das Mittelmeer und einen Großteil der EU durchquert. Viele kommen aus Ländern mit britischer Kolonialvergangenheit und erhoffen sich in England weniger sprachliche und kulturelle Barrieren.
In ihrem Blog dokumentieren Aktivisten der Calais Migrant Solidarity, was sie täglich beobachten und was ihnen Tausende undokumentierte Migranten berichten.
„…daily police violence and arrests increased dramatically … migrants beaten by police causing broken legs, arms and facial injuries … many reports of police chasing migrants into busy motorways…“
Calais ist einer der schlechtesten Orte für Flüchtlinge in Europa. Der damalige französische Innenminister Nicolas Sarkozy ließ 2002 ein Rotkreuz-Camp schließen und riss später als Präsident die großen, selbstorganisierten Camps der Geflüchteten ab. Unterkünfte gibt es keine. Der Hafen ist, wie alle Wege der Weiterreise, schwer bewacht.
Meist sind es die Aktivisten der Calais Migrant Solidarity, die hier versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie nutzen die Bewegungs- und Handlungsspielräume ihrer europäischen Pässe, um weniger privilegierte Menschen zu unterstützen.
„Police chased people into oncoming traffic, broke many limbs, and regularly used pepper spray at point blank range… CRS riot police handing a truck driver their batons, with the intention of assisting him in the illegal assault of refugees.”
Die Aktivisten des NoBorder!-Netzwerks, meist nicht mehr als 10 bis 15 Personen stark, tun, was die Stadtverwaltung von Calais tun sollte: Jahr für Jahr besetzen sie leerstehende Häuser und Fabriken, um Unterkünfte für Geflüchtete zu schaffen, verteilen Zelte und Schlafsäcke. Doch die Polizei reißt diese wertvollen Plätze oft schnell wieder ab, klaut Sachspenden – oder pinkelt auf Schlafsäcke und besprenkelt sie mit Chemikalien. Die Aktivisten bewachen daher die Camps und dokumentieren polizeiliche und rechtsradikale Übergriffe auf Sans-papiers.
Chris Grodotzki Zitate aus dem Blog der Calais Migrant Solidarity

Aus Angst vor einer Registrierung in Ungarn laufen Menschen zurück in Richtung Serbien.
Eine Mitfahrt nach Hannover
Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so eine einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.
Seit zehn Stunden fahren wir. Meine Augen haben keine Lust, weiter auf die Autobahn zu starren. Nur Koffein hält sie offen. Wir fahren die bekloppteste Route von Calais nach Hannover: über Freiburg. Wir wollen jeder Grenze ausweichen, die Holland zu nah sein könnte; dort kontrolliert die Polizei auf Drogen. Dabei haben wir nicht ein Gramm Gras im Gepäck. Aber 80 Kilo einer anderen illegalisierten Substanz: Mensch ohne Papiere.
Unser Mitfahrer war so leichtsinnig, ohne gescheiten Grund in Ostafrika auf die Welt zu kommen. Dort hat er es sich mit den Despoten verscherzt. Jetzt steht er ohne Pass da. Mitten in Europa.
Wir haben ihn in Nordfrankreich kennengelernt, wo wir über die Situation berichten wollten, die er und viele andere dort durchleben. Es wurde Winter und unser Freund war kurz davor sein frohes Gemüt zu verlieren.
Freunden hilft man. Auch und gerade dann, wenn das bedeutet sinnlose, menschenverachtende Gesetze zu übertreten. Was kann uns schon passieren, mit deutschem Pass und ohne große Vorstrafen? Vielleicht eine Geldstrafe wegen Beihilfe zur illegalen Einreise, maximal Bewährung. Also fahren wir. Nur einmal geht uns der Arsch auf Grundeis. Auf den steilen Serpentinen der Vogesen stürzt sich hinter uns ein Trucker derart selbstmörderisch in die Kurven, dass wir alle Mühe haben den nötigen Abstand zu halten.
Unser Mitfahrer schläft und wird nicht erwachen, bis wir die deutsche Grenze passiert haben. Der kleine Mietwagen, ein Fiat 500, ist wie gemacht für diese Unternehmung: das perfekte Urlaubsauto für ein junges Pärchen wie uns – inklusive Münchner Kennzeichen. Die Scheiben hinten sind verspiegelt, unser Passagier fällt kaum auf. Nach der Grenze: kurzer Stopp in Freiburg, drei Stunden schlafen. Weiter. Bloß nicht an der Raststätte raus, Team Blau hält dort gerne die Augen auf – nach Hippies und Schwarzen. Also immer runter von der Autobahn; zum Tanken, zum Essen, kurzer Powernap. Weiter. Nervenkitzel, jedes Mal, wenn ein Blaulicht aufblitzt. Stimmungs-Hip-Hop aus den Autolautsprechern hält wach, wenn die Nervosität nachlässt: Antilopen Gang – Aversion.
Warum ist der deutsche Staat so dreist und verbietet mir, meine Freunde mit nach Hause zu nehmen?
Unser Mitfahrer erzählt von seiner Heimat, wo ihn eine große Partei zur Mitgliedschaft zwingen wollte. Sanktionen müssen die Verantwortlichen deswegen nicht befürchten. Der Westen profitiert vom System – wie in so vielen Ländern Afrikas. Korrupte, autoritäre Regierungen gelten als stabil und liefern uns die nötigen Rohstoffe, auf die wir Exportweltmeister angewiesen sind. Die Einnahmen aus dem Rohstoffexport reichen zwar nicht, um die Bevölkerung zu versorgen, doch dem guten Leben der Oberschicht genügen sie. So gründet meine Freiheit auf der Unfreiheit meiner Freunde aus dem Globalen Süden, mein Wohlstand auf ihrem Ausschluss. Und was würde wohl aus meinen Privilegien und unserem Reichtum, wenn die Knechte des Weltmarktes plötzlich in die Shopping-Meile Deutschland einfallen? Aus den Lautsprechern des Autoradios rappt die Antilopen-Gang: „Deine schöne, heile Welt ist ein lächerlicher Witz!“
Unser Fahrgast erzählt weiter: Wo er geboren wurde, aufwuchs, studierte, Fußball spielte… und wo er beinahe draufgegangen wäre: in der Sahara, in den Händen von Schleusern, die ihm und seinen Gefährten gerade mal ein Glas Wasser pro Tag gaben. Im libyschen Knast, wo er über Tage sein Urin trank, weil die Wärter gar kein Wasser gaben. Auf der Überfahrt nach Italien, mit 130 Menschen in einem 20-Meter-Schlauchboot.
Am Abend erreichen wir Hannover, treffen Freunde auf einem Festival. Eine kleine Feier mit unserem Mitfahrer können wir uns nicht verkneifen. Viele feiern mit: Nimm das, Festung Europa! Unser Freund möchte noch weiter nach Dänemark – er hat gehört, in den skandinavischen Ländern sei es leichter Asyl zu bekommen. Wir wünschen ihm Glück, versprechen zu Besuch zu kommen. Kopenhagen ist ja nicht weit. Für uns.
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Wie der österreichische Journalist Robert Misik zum Schlepper wurde
Über den Dokumentarfilm “An der Seite der Braut”
Wie werde ich Fluchthelfer.in?

Das Osnabrücker Bündnis feiert eine verhinderte Abschiebung.
Abschiebungen verhindern
Alex* ist 29 Jahre alt und leistet Vollzeit-Aktivismus. Mit der NoLager-Gruppe im Bündnis gegen Abschiebungen Osnabrück hat er in den letzten zwei Jahren 33 Abschiebungen verhindert.
Wenn in Osnabrück eine geplante Abschiebung bekannt wird, findet sie meistens nicht statt. Wie kommt’s? Ein Geflüchteter ist im März 2013 auf NoLager zugekommen und hat uns einen Brief gezeigt. Darin stand, dass er noch in derselben Nacht abgeschoben werden sollte. Ohne zu wissen, was auf uns zukommt, sind wir mit ihm zu seinem Wohnheim gegangen und haben uns davorgestellt. Frühmorgens kam die Polizei und wollte ihn mitnehmen, woraufhin wir meinten: Nö, wir lassen euch nicht durch. Nach einer kurzen Diskussion ist sie gefahren. Und nicht wiedergekommen.
Wenn jetzt eine Abschiebung bekannt wird, schicken wir SMS an etwa 400 Menschen – von NoLager, dem Exil-Verein, Kirchengemeinden, mitunter sogar Leuten aus dem Stadtrat.
Wie kam diese Zusammenarbeit zustande? Beim ersten Mal waren wir nur Leute aus dem linksradikalen Spektrum. Mit dem Erfolg hat sich aber schnell das Bündnis gegen Abschiebungen gegründet, das inzwischen ein breiter Schnitt durch die Gesellschaft ist. Ich bin selten in der Kirche, habe aber erfahren, dass der Pastor auf der Kanzel von dem Bündnis erzählt hat und die Leute dann dachten: Da müssen wir helfen! Das hat Berührungsängste abgebaut. Dass Linksradikale was mit Kirchenleuten machen, ist ja nicht alltäglich.
Haben die Behörden nach all den missglückten Versuchen etwas an ihrer Strategie geändert? In den Briefen der Ausländerbehörde stand erst, die Leute sollen in ihren Zimmern auf den Abschiebe-Bully warten. Also haben wir uns im Haus vor dieses Zimmer gesetzt. Dann schrieb sie, die Geflüchteten sollen vors Haus kommen. Da haben wir das Tor blockiert. Schließlich sollten die Leute im Falle einer Demo abseits der Versammlung stehen und sich auf Zuruf deutlich zu erkennen geben. Darum verteilen wir uns, und wenn nach dem Abzuschiebenden gefragt wird, antworten alle: “Ja hier, das bin ich!”
Es ist wichtig, dass die Refugees abholbereit an Ort und Stelle sind. Sie haben sogar einen Koffer dabei. Folglich ist das ihrerseits kein Abtauchen oder Widerstand; denn sie verhindern ihre Abschiebung nicht selbst.
Was passiert dann mit den Menschen? Nach sechs Monaten, die man sich in einem EU-Land aufhält, kann man den Antrag stellen, dass der Asylantrag dort behandelt wird statt im Land der Einreise. Dementsprechend zögern wir Abschiebungen so lange hinaus, bis die Asylsuchenden ein halbes Jahr hier sind – und das haben wir auch bei vielen Menschen geschafft. Mittlerweile haben wegen dieser Aktionen Leute ein begrenztes Bleiberecht bekommen. Ein Freund von mir konnte gerade aus dem Lager in eine WG ziehen.
* Alex gibt seine Identität lieber nicht preis. Die Fragen stellte Chris Grodotzki.