
„Es ist wichtig, wie die sind.“
Jan Soldat, 30, ist ein Regisseur, dem es um den Menschen geht. Er bringt sich unvoreingenommen in interessante Situationen und Lagen – von denen wir uns sonst nur mit einem getrockneten Moralpinsel blasse Bilder in den Kopf malen.
„Es ist wichtig, wie die sind“, sagt Jan Soldat und alles scheint klar. Das einfache ergibt bei ihm oft am meisten Sinn. Seine rund 40 Dokumentarfilme vereint ein Thema: Sex. Der Dokumentarfilmer möchte den ganzen Menschen zeigen, er begleitet die Porträtierten mit Respekt und klaren Bildern. Er lässt sie ihre Körperlichkeit und Sexualität außerhalb gesellschaftlich etablierter Normen zeigen. Doch der Regisseur legt keinen Wert auf Kategorisierung, denn „es geht nicht um das Warum.“
„Sich nackt zeigen ist mit einem Tabu behaftet“, sagt Jan. Serien wie Sex and the City brechen zwar das Schweigen und der Geschlechtsakt wird zum allgegenwärtigen Thema: Eine von Samanthas Eroberungen kettet sich im Kleiderschrank an und sagt, als I’m Too Sexy von Right Said Fred läuft: „Schlag mich!“ Alles ist perfekt inszeniert. Der Mann sieht gut aus in seinen Ketten, Samantha mutet bezaubernd an in ihrem roten Kleid – und der Kleiderschrank ist mit Zedernholz vertäfelt. Das Zuschauerauge labt sich am Genuss der Ästhetik, die uns immer als das Natürlichste verkauft wird.
Anders als in Serien, in denen Unterhaltungen und Handlungen künstlich aufeinander abgestimmt sind, sieht man in Jan Soldats neustem Film Der Unfertige den Mut zur rohen Echtheit:
Der 60-jährige Klaus Johannes Wolf alias Gollum bezeichnet sich selbst als Sklaven. Er fesselt sich in SM-Ketten und sitzt auf seinem Bett. Man spürt sein Mitteilungs- und sein inneres Sicherheitsbedürfnis, wenn man ihn unmittelbar vor sich sieht, den Blick offen und direkt in Jans Objektiv gewandt. Klaus zeigt Bilder seiner Familie und erzählt von ihr. Er nimmt uns mit in seinen Alltag, unverstellt und ehrlich.
„Meine Filme sind Plattformen, dass meine Protagonisten sich zeigen, wie sie sich gerne zeigen würden, oder was sie schon immer mal sagen wollten“, sagt Jan. „Dann liegt es in meiner Verantwortung, dass es ausgewogen bleibt und nicht propagandamäßig wird.“
Die Familiengeschichte von Klaus ist stark gefärbt: angefangen bei einem Opa, der die nackten Enkelkinder mit einem Gartenschlauch abduscht, über den früh verstorbenen Vater, ehemals bei der SS, hin zu einer dominanten Mutter. Doch Jan Soldat will jeder Stereotypisierung entgegenwirken: „Der Film gibt Mosaikstücke vor.“ Die alleine seien aber zu wenig, um den Protagonisten zu erklären. „Man ist dazu geneigt, auf ein Trauma zu reduzieren“, sagt Jan. Aber ein Mensch habe viel mehr Facetten.
Jan legt großen Wert darauf, den Mensch Klaus zu zeigen, mit allem, was er ist. Und möchte ihm durch die Art, wie er den Film präsentiert, einen Schutzraum geben – im Film ist es dem 60-Jährigen möglich, zu sein und zu zeigen, wer er ist. Es geht nicht darum, Schlagzeilen zu machen, sondern einzig um ihn, den Unfertigen.
Jan produziert den größten Teil seiner Filme allein: „Viele Leute sind so voreingenommen, die haben so eine Psychologisierung, die sie dann mit ins Gespräch zu mir bringen.“ Und das würde ihn behindern; er will sich vorurteilslos auf seine Protagonisten einlassen. Für seinen Film Zucht und Ordnung (2012) plante er, ohne Vorgespräch einfach drauf los zu filmen, ohne das ältere Pärchen Manfred und Jürgen zu kennen. „Was sehe ich als Jan?“, ist sein Credo. Und somit schwingt immer eine Unbekümmertheit mit, wenn die beiden Männern während ihres SM-Spiels anmerken, dass sie eben pinkeln gehen müssen.
Bei Jan steckt Intuition dahinter, besonders bei seinen Kameraeinstellungen. Sie entstehen aus einem „bewussten Gedanken, der aber nicht im Vorhinein geplant ist. Da was draufzudrücken, wäre mein Wille als Konzept, und das hätte nicht gepasst“. Die Einstellungen sind bei all seinen Filmen auf die Bedürfnisse der Protagonisten abgestimmt, denn „Menschen und Räume geben etwas vor“.
Bei Zucht und Ordnung ist das Bild wesentlich mehr in Bewegung als im Unfertigen, und es erfährt auch nicht die Begrenzung wie bei Klaus. Es zeigt Manfred und Jürgen, die munter in der Wohnung auf- und ablaufen. Beide sitzen entspannt auf ihrer Couch und reden gemütlich über ihr Leben, während rechts und links ihre Möbelstücke ins Bild ragen. Jan versucht, diese Lockerheit einzufangen.
Die Filme brauchen einen geschützten Raum, nicht das Internet
Bei Der Unfertige gibt Klaus sich selbst durch seine Ketten Grenzen, und Jan fängt sie durch eine klare Bildgestaltung ein. Da sind leise, intime Einstellungen auf das Bett, die Küche, die Badewanne. Keine Schnörkel, klare Linien. Klaus erzählt von dem Grab seines Vaters, auf dem Blumen so hoch gestapelt waren, wie der Schrank in seinem Zimmer hoch ist – aber die Kamera folgt nicht Klaus’ Fingerzeig, seiner Deutungsgeste, sondern bleibt starr auf ihn gerichtet. Jan will „die Kamerapositionen wechseln, wenn es sich natürlich anfühlt.“ Er fordert den Zuschauer auf, sich selbst Bilder zu machen, zu reflektieren: „So ist man mehr beim Protagonisten und letztlich auch mehr bei sich selbst.“
Die gezeigten Szenen sind keine leichte Kost. Jan Soldat entschied sich mit seinen Protagonisten, die Filme nicht online zugänglich zu machen, damit sie nicht Opfer von einer Kontextverschiebung werden. Es sei wichtig, meint Jan, „das Werk im Ganzen zu sehen, in einem geschütztem Raum, der ein wertiges Auseinandersetzen möglich macht.“