„Bullshit Jobs“ nennt der Anthropologe David Graeber Jobs ohne Sinn, Jobs, die der Gesellschaft nichts bringen, ja nicht mal unbedingt Profit fürs Unternehmen. Oft sind das Jobs rund ums Management und in der Verwaltung, in Kanzleien, Beratungen, Agenturen und Lobbys: gut bezahlt, aber unproduktiv. Letzten Endes erhalten diese bullshit jobs vor allem wirtschaftliche Machtstrukturen. Die würden sonst kollabieren, meint Graeber – schließlich regeln sich die Märkte in Wahrheit nicht selbst. Denn Adam Smiths berühmte Hand mag zwar recht unsichtbar sein, doch besteht sie tatsächlich aus vielen Händen, ganz realen sogar, statt allein und heilig über unseren Köpfen zu schweben.

Mit seinem im Oktober erschienenen Buch Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit denkt Graeber einen polemischen Essay weiter, den er 2013 fürs Strike Magazine schrieb. Leider vergisst er dabei den größten bullshit job, den es zurzeit gibt: den des Bewerbens. Den der Lebenslaufupdates, des Googlens von Stellenanzeigen, des Umhörens unter Freunden, der Pflege von Xing und LinkedIn, des Pitchens, Ranschranzens und Nachhakens.

Deutschland zählt 2,4 Millionen Arbeitslose (Januar 2019) und gute eine Million Menschen in der Stillen Reserve – Leute, die nicht arbeitslos gemeldet sind, aber Arbeit suchen; oder in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen stecken.

Dazu arbeiten 3,6 Millionen Menschen in Deutschland selbstständig, mehr als die Hälfte von ihnen in sogenannten Ich-AGs, also ohne Angestellte. 2,6 Millionen haben einen befristeten Arbeitsvertrag, 2,2 Millionen sind geringfügig beschäftigt. 0,9 Millionen machen Zeitarbeit, Tendenz weiter steigend. Auch jeder vierte Erwerbstätige muss also mal mehr, mal weniger akut gucken, wo er bleibt. Und auch Angestellte verwenden natürlich Zeit darauf, im und neben dem Job die Fühler auszustrecken.

So unterschiedlich die Lebensentwürfe von Arbeitslosen, Zeitarbeitern und Freelancern im Einzelnen sein mögen: Sie eint, dass sie viel Zeit und Mühe aufbringen, Arbeit zu suchen, ihre Projekte zu pitchen und sich selbst. Ein bullshit job, der noch nicht mal ein richtiger Job ist. Sondern nur die informelle Arbeit, die nötig ist, um welche zu bekommen. Work to find work.

1.

Der Nebenjob, den man nicht loswird

Doing the work is fun. Finding the work is the job.

Keith Randle und Nigel Culkin: „Getting In and Getting On in Hollywood. Freelance Careers in an Uncertain Industry“. In Creative Labour: Working in the Creative Industries, herausgegeben von Alan McKinlay und Chris Smith.

Imke (Name geändert) kriegt Zukunftsangst, wenn gar kein Auftrag kommt – „unterbewusst“, wie sie sagt. „Dann überlege ich mir, was ich noch machen kann, um mein Portfolio aufzubessern. Dann schaffe ich mir die Arbeit selbst.“ Einen Tag pro Woche arbeitet Imke fest als Cutterin, ansonsten frei. Am meisten stört sie, wie normal es ist hingehalten zu werden: „Oft heißt es ‘Wir melden uns bald’ und dann kommt gar nichts oder irgendwann ein bisschen was. Das war sogar mal nach einem Probetag so, einfach Funkstille. Man kann sich nie auf etwas verlassen. Und plötzlich kommt doch wieder ein Anruf.“ Einen Tag pro Woche bringt Imke allein dafür auf, sich durch Websites zu klicken und Leuten hinterherzuschreiben.

Sanne (Name geändert) wiederum hat immer Arbeit – nichtsdestoweniger sieht sie sich gedrängt, einen wesentlichen Teil ihrer Zeit für Arbeitsamt und Bewerbungen aufzubringen. Wie das?

Sanne arbeitet für einen gemeinnützigen, sozialen Verein, der momentan nicht genügend Förderungen erhält, dass seine Mitglieder damit die Ansprüche ihrer Arbeit erfüllen könnten. Sanne und ihre Kollegen im Vereinskollektiv helfen sich darum gegenseitig, Arbeitslosengeld I zu beziehen. Dafür stellen sie sich mal im Verein an, mal kündigen sie sich. Arbeiten tun sie, auch wenn sie offiziell arbeitslos sind. Die Gehälter und Transfergelder fließen gemeinsam in einen Topf und zahlen sowohl Unterhalt als auch die Vereinsarbeit. Sanne nennt das eine „kollektive Finanzierungsstruktur über Arbeitslosengeld I“ – eine Strategie des Umgangs mit Prekarität.

Die Zeit, die für den Geldbezug draufgeht, verbucht das Kollektiv als Arbeitszeit: die Termine beim Amt, Bewerbungen und Fake-Weiterbildungsbescheinigungen schreiben, Urlaub und damit Ortsabwesenheiten fürs Amt organisieren, die Berechnung ihres Arbeitsmodells: Wer bekommt welches Geld wofür, wer zahlt was ein, wer wird wann wieder offiziell gekündigt? Besonders wichtig sei das Überlegen eines gemeinsamen „Narrativs“, wie Sanne es nennt: Mit welcher Erzählung haben die Mitglieder des Kollektivs vorm Arbeitsamt die besten Chancen, ihrer Eingliederungsvereinbarung gerecht zu werden und nicht aus dem Transfergeldbezug raus- oder gar aufzufliegen?

Natürlich sei ihr Vorgehen mit Rechtsbrüchen verbunden, sagt Sanne. Doch sei das Prinzip „immer wieder in den Transferleistungsbezug reingehen und wieder raus“ ja tatsächlich für viele normal; ganze Berufsgruppen könnten kaum darauf verzichten, wie prekär angestellte Wissenschaftler, viele Künstler und sowieso die meisten, die ihr Leben in Projekten denken müssen. Sanne verweist auch auf die Millionen Erwerbstätigen im Niedriglohnbereich, deren Einkommen nicht ausreicht, um die eigene Existenz zu sichern, und die daher auf Sozialleistungen angewiesen sind – sogenannte Aufstocker.

Zahlen, wie viel work to find work die Volkswirtschaft letztlich aufbringt, lassen sich statistisch schwer erfassen; aber der eine Tag pro Person und Woche, von dem Imke spricht, scheint zumindest für Selbstständige ein guter Richtwert zu sein. Er passt auch zu einer Studie der Bochumer Ruhr-Universität und der FH Kärnten über freischaffende Kreative und Medienleute, Berater und IT-ler, deren Kompetenzen in der Regel sehr gefragt sind. Eine Besonderheit dieser Experten, die sich ihre Auftraggeber im Unterschied zu anderen oft aussuchen können: Auf Karrierenetzwerken wie LinkedIn vergleichen sie ihre Kompetenzen mit denen der Konkurrenz, sie recherchieren neue Trends, versuchen sich die brandheißen anzueignen und bewerben sich allein, um ‚mal meinen Marktwert zu testen‘. Sie verschicken Bewerbungen zwecks Benchmarking des Selbst.

Für viele Freelancer wie Imke ist dieser bullshit job ein obligatorischer Nebenjob wie für sogenannte Arbeitslose (die ja doch oft arbeiten, ob informell oder im Care).

2.

Jobcenter werden nie Vollbeschäftigung bringen, und die braucht auch niemand

Unser gemeinsames Ziel ist Vollbeschäftigung in Deutschland.

Klar kann man die work to find work nicht ohne Weiteres abschaffen. Solange es Arbeitsmarkt und -teilung gibt, wird Arbeit nötig sein, damit sich Leute kennenlernen und Teams bilden, um zusammen etwa zu machen und zu schaffen. Bezeichnend ist aber das Ausmaß dieser Arbeit in einer Welt, wo Freiberufler auf LinkedIn ihren Marktwert evaluieren, Hartz-IV-Empfänger nur so lange komplette Bezüge bekommen, wie sie Bewerbungen schreiben, und der Staat 3,65 Milliarden Euro pro Jahr (2017) für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ausgibt, also vor allem für Weiterbildung, Aktivierung und Gründungszuschüsse.

Man mag diese Maßnahmen niemandem versagen, der sich tatsächlich weiterbilden will oder mit aller Passion kecke Businesspläne pitcht. Entscheidend ist aber, wo diese Arbeitsmarktpolitik hinführen soll: zur Vollbeschäftigung. Das ist in etwa so, als habe man einen halbvollen Topf Kartoffelsuppe, der zwar alle sättigt – aber ein halbvoller Topf ist auch halbleer; darum schütten alle bisher Unbeteiligten noch eine Kelle Hühnerbrühe rein. Das macht die Suppe nicht besser, doch haben jetzt alle was gemacht und der Topf ist prall bis zum Rand. Randvoll und mit zwei Wienerle als Topping kam die Supp’ bestenfalls auch schon bei Oma zu Tisch, warum sollte sich daran was ändern?

Wer dann Bewerbungen schreibt, tut das dann meist aus einem Defizit heraus – weil er keinen Job hat oder zumindest keinen, der einen zufriedenstellen würde. „Die wenigsten denken sich in dieser Situation: Wie cool ich bin! Das schreib ich jetzt mal auf“, meint Sanne. Sie fände es toll, wenn mehr Leute mit- und füreinander Bewerbungen zu schreiben. Über die Fähigkeiten eines anderen zu schreiben und sich so gegenseitig zu stärken: Dafür muss man sich nicht mal im halblegalen Rahmen bewegen, wie Sann es tut.

So eine Art von Coworking zieht einen sicher nicht gleich aus der Prekarität, aber „verteilt den Disziplinierungsdruck“, so Sanne. Dass nicht viel mehr Menschen solidarisch für Bewerbungen zusammenarbeiten, sieht Sanne in der Systemlogik begründet: „Wer keinen Job hat, der gilt selbst als verantwortlich dafür. Und es wird so getan, als könne und müsse sich das Individuum allein da rausziehen. Diese Denke haben wir internalisiert. Und kommen deswegen gar nicht so leicht darauf, dass es auch anders sein könnte.“

Auch Imke war einmal bewerbungspflichtig. Sie wollte eine Weiterbildung in Potsdam machen, finanziert von der Arbeitsagentur. Dafür musste sich Imke arbeitslos melden – und nachweisen, dass sie auch wirklich keinen Job bekommt. Ein Mittfünfziger von der Arbeitsagentur hat ihr Ausschreibungen geschickt, meist irgendwas mit Webdesign: „Mit dem, was ich mache und gelernt hab, hat das nichts zu tun“, sagt Imke. Dann haben sie gemeinsam Bewerbungen durchgeguckt. „Das Ganze hat Null geholfen. Es hat mir nur gezeigt, dass ich nie was mit der Agentur zu tun haben will, wenn’s mal wirklich eng wird.“

Angestellte von Jobcentern und Agenturen, die verzweifelt versuchen hilfreich zu sein, aber überfordert sind mit der Spezialisierung der einzelnen Branchen, besonders mit neuen Berufen wie UX Design und Community Management: Sie scheinen keine Seltenheit zu sein. Wahrgenommen werden sie statt unbedingt Hoffnung machend deshalb als hoffnungslos aufdringlich.

3.

Das Übel hat einen Namen

Mit „Hallo Freelancer“ startet XING gerade eine neue Plattform, über die Unternehmen und Freelancer zueinander finden. Falls XING-Mitglieder sich einfach nur fortbilden und ihre Kenntnisse erweitern möchten, bietet XING Coaches+Trainer eine Plattform, auf der verschiedene Trainer anhand wichtigster Kriterien verglichen werden können. Und in unserem Stellenmarkt können sich Nutzer durch zahlreiche Filter gezielt Unternehmen heraussuchen, die flexible Arbeitsbedingungen bieten und sich durch integrierte Arbeitgeberbewertungen auch gleich weiter über potenzielle Arbeitgeber informieren.

aus XINGs Antwort auf eine TONIC-Anfrage

In den 1990er Jahren entwickelten die beiden Soziologen Gerd-Günter Voß und Hans J. Pongratz das Konzept des Arbeitskraftunternehmers. Arbeitnehmer also, die den eigenen Körper und Geist als Betrieb begreifen müssen, mit dem sie wie Unternehmer zu verfahren haben: Was sie und ihre Firma nicht voranbringt, muss weg (Rationalisierung der Lebensführung), sie managen sich selbst auf die Ziele eines Unternehmens hin (Selbst-Kontrolle) und sie sind genötigt ihre Arbeitskraft stets weiterzuentwickeln und anzupreisen (Selbst-Ökonomisierung). All das macht der Arbeitskraftunternehmer weitgehend autonom – persönliche Spielräume statt Taylorismus.

Aus einem nur gelegentlich und dabei oft eher passiv auf dem Arbeitsmarkt agierenden Arbeitskraftbesitzer muß jetzt zunehmend ein auf neuer Stufe strategisch handelnder Akteur werden: Ein Akteur, der sein einziges zur Subsistenzsicherung nutzbares „Vermögen“ hochgradig gezielt und kontinuierlich auf eine potentielle wirtschaftliche Nutzung hin entwickelt und aktiv verwertet - sowohl auf dem Arbeitsmarkt wie auch innerhalb von Beschäftigungsverhältnissen. Auch hier drückt eine neue betriebliche Devise aus, worum es geht: „Sie bleiben nur so lange, wie sie nachweisen und sicherstellen, daß sie gebraucht werden und Profit erwirtschaften!“.

Hans J. Pongratz, Gerd-Günter Voss (1998)

So umstritten der Begriff des Arbeitskraftunternehmers anfangs war, sind sich heute die meisten Forscher einig, dass der Typus heute prominent durchs Arbeitsleben schlendert; und ob kritische Arbeitswissenschaftler oder neoliberale Politik-Bestimmer: Sie sind sich einig, dass man als Arbeitskraftunternehmer die beste employability mitbringt.

4.

Wege aus der Pitcherei

„Generell sollten sich Leute zurückmelden“, meint Imke. „Und umgekehrt nicht erwarten, dass Freelancer rund um die Uhr arbeiten. Aber als ich einer Firma letztens meine Arbeitszeiten sagte, haben die das auch geschluckt.“ Manche Regeln sind gut gemeint, stehen aber oft im Weg. So darf man nach einer befristeten Anstellung sechs Monate lang nicht frei für eine Firma weiterarbeiten, nur in abgeschlossenen Projekten, daheim. Imke meint: „Das geht von einem Ideal der unbefristeten Vollzeitstelle aus, das aber heute viele nicht mehr haben.“

Sanne sagt, ihr Kollektiv würde sich im Grunde selbst ein Grundeinkommen schaffen – jedoch kein bedingungsloses: Immerhin müssen sie erfüllen, was die Arbeitsagentur ihnen vorgibt. Dabei könne so ein bedingungsloses Grundeinkommen schon einiges leisten, meint Sanne. Solange es nicht nur das Überleben sichere, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe ermögliche. Dass Menschen dann am Ende weniger arbeiten, glaubt sie nicht. Eher würden sich die Tätigkeitsbereiche verschieben, hin zu Care-Arbeit zum Beispiel. Auch würde so ein Grundeinkommen die work to find work eindämmen und dabei die Wirtschaft sogar effizienter machen: „Diese neoliberalen Projektfinanzierungslogiken fressen ja unglaublich viel Kraft: Sehr viel Zeit ist man beschäftigt innovativ klingende Konzepte zu schreiben. Und selbst wenn ein Projekt eine Förderung bekommt, ist das Ganze meist kurzfristig und die Fluktuation ist enorm.“

Während die SPD Hartz IV nach 14 Jahren schließlich überdenken will, hält sie samt der Großen Koalition am Ideal der Vollbeschäftigung fest. Genauso wie an der Gebetsmühle, „mehr Bildung“ werde es in der Regel schon richten.

Der Neoliberalismus, in den man die work to find work bequem einbetten kann, tut gerne so, als würde er laufen wie geschmiert – schließlich kämen ja nur Erste-Sahne-Projekte zum Zug, facilitatet von den gewieftesten Aspiranten. Das Ausufern der work to find work zeigt: Das Gegenteil ist des Fall.

Noch lieber als ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre Sanne darum ein Systemwechsel.