Seit acht Tagen sitzt auf einem Hausdach in der Berliner Gürtelstraße ein Häufchen Flüchtlinge, das sich weigert herunterzukommen. Denn aufgeben hieße, sich freiwillig in die Obdachlosigkeit – oder noch schlimmer: in die Abschiebung – zu begeben. Nach jahrelangem Protest am Oranienplatz und der letzten zerstörten Hoffnung, einem Einigungspapier, das der Berliner Senat platzen ließ, sind die Flüchtlings-Aktivisten zu allem bereit. Die Staatsgewalt scheint es nun darauf anzulegen, dass es auch wirklich zum Schlimmsten kommt.

Seit Beginn der Besetzung hat die Berliner Polizei fast die komplette Gürtelstraße abgeriegelt, lässt niemanden auch nur in die Nähe der Dachbesetzer. Keine Journalisten, keine Anwälte, nicht mal die auf Bitte der Flüchtlinge angerückten kirchlichen Seelsorger. “Wenn diesen armen Menschen nicht einmal mehr geistlicher Beistand gewährt wird, sind wir ganz weit unten angekommen”, bilanziert Pfarrer Pfarrer Ringo Effenberger. Mit den wenigen Unterstützer und der Presse bleibt auch die Nahrungsmittel- und Medikamenten-Versorgung unten vor der Polizeiabsperrung. Zwar hatten die Flüchtlinge ein paar Lebensmittel in ihrem Dachzimmer gebunkert, doch nach acht Tagen dürfte davon nicht mehr viel übrig sein. Elektrizität und Wasser wurden bereits am zweiten Tag abgedreht. Nachdem den Refugees immer wieder „Erpressung“ vorgeworfen wurde, weil sie in den Hungerstreik traten oder Plätze besetzten, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen, werden nun sie erpresst: Entweder ihr kommt da runter oder ihr verhungert da oben. Mäßig Erfolg versprechende Strategie, wenn man es mit verzweifelten Menschen zu tun hat, die schon von sich aus mehrmals angedroht haben, sich zu töten, sollte sich die Politik nicht bewegen.

Hausrecht vor Menschenrecht

Die Berliner Polizei erklärt derweil jedem, sie setze nur das Hausrecht des Hostel-Eigentümers durch, indem sie die Refugees rauszwinge und niemand anderen hineinlasse. Willkommen im Land, in dem das Hausrecht (irgendwo im BGB) über dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2, Grundgesetz) steht. Ist nicht die Polizei verpflichtet, für Menschen in ihrer Gewalt zu sorgen? Denn das sind die Flüchtlings-Aktivisten momentan, wenn auch anders, als die Staatsmacht das gerne hätte. Und würden sich die Herren in Grün und Blau das Aushungern auch trauen, wenn es hier um weiße deutsche Aktivisten ginge? Ziemlich sicher nicht.

In der Umweltbewegung habe ich über die letzten Jahre einige Besetzungen verfolgt und miterlebt. Keine acht bis zehn verzweifelte Leute auf einem Hausdach, sondern Dutzende ausgebildete Aktivisten, die Bäume und ganze Wälder besetzten, sich unter der Erde in Tunneln verschanzten oder mit Betonblöcken unter Gleisen festketteten. Aktivisten, die sich wochenlang vorbereitet hatten, um es der Polizei so schwer wie möglich zu machen, sie dort wegzubekommen, wo sie im Weg sein wollten.

Bei keiner dieser Aktionen habe ich erlebt, dass die Polizei den Blockierenden Essen oder gar Wasser verweigerte – zumindest nicht länger als ein paar Stunden. Nicht, dass ich der Polizei nicht viel zutrauen würde: Ich kenne viel zu viele weiße Aktivisten, die im Namen von (Haus-)Recht und Ordnung regelrecht gefoltert wurden. Doch im Normalfall – solange die Öffentlichkeit zuschaut – gibt sich Vater Staat Mühe, den Schein zu wahren, das Recht körperlicher Unversehrtheit stehe noch über Haus- und Polizeirecht. Menschen als Reaktion auf zivilen Ungehorsam auszuhungern würde in den meisten Fällen einen Shitstorm sondergleichen lostreten. Zumindest dann, wenn es um weiße Europäer geht.

Doch der Shitstorm lässt auf sich warten. Weder die Medien, die meistens nur in einem Nebensatz über die Verweigerung der Grundversorgung berichten, noch die Berliner (abgesehen von einem kleinen solidarisch protestierenden Häufchen), ja nicht mal die großen Verteidiger der universellen Menschenrechte wie Human Rights Watch und Amnesty International, halten ein Einschreiten für angebracht. Jahrelange rechtspopulistische Meinungsmache von NPD, AfD und CSU bis tief hinein in die Sozialdemokratie trägt ihre abstoßenden Früchte. In Hannover fackelt derweil ein im Bau befindliches Lager für Asylbewerber ab.