Hinweis der Redaktion: Die Aussagen aus der demokratischen Konföderation Nord-Syrien können wir nicht unabhängig prüfen. Wir veröffentlichen sie, weil sie unserer Meinung nach einen wichtigen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Debatte geben. Wir danken dem Rojava Information Center sowie dem Autor Ercan Ayboga für ihre Unterstützung. Wir wünschen, dass Berichterstattung aus der Region künftig eine wesentlich größere Rolle spielt.

Wache bei der Beerdigung des Menschenrechtlers Hevrin Khalaf. Oktober 2019, Rojava
Rojava Information Center

Wache bei der Beerdigung des Menschenrechtlers Hevrin Khalaf. Oktober 2019, Rojava

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Rojava oder offiziell: die demokratische Konföderation Nord-Syrien ist das weltweit bekannteste Beispiel für einen Versuch, polizeikritische Utopien auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu verwirklichen. In den vornehmlich von Kurd*innen bewohnten Gebieten Nord-Syriens wurde im Zuge der Revolution gegen das Assad-Regime in Syrien 2011 eine Entmachtung der nationalen syrischen Machthaber erreicht, die sich in der Folge weitgehend aus den Gebieten zurückgezogen haben.

Anschließend wurde unter der Führung der kurdischen Befreiungsbewegung mit dem Aufbau eines Gesellschaftsmodells begonnen, das das Zusammenleben der etwa zwei Millionen Einwohner*innen regelt. Dieses anti-hierarchische und anti-nationalistische, feministische und ökologische Projekt des „demokratischen Konföderalismus“ beruht auf einer umfassenden, rätedemokratischen Selbstorganisation der Gesellschaft, das von basis- und repräsentativ-demokratischen Elementen ergänzt wird.

Einheiten der Asayish in Nord-Syrien, 2019
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Einheiten der Asayish in Nord-Syrien, 2019

Im Zuge dieser Transformation wurden auch im Bereich inneren Sicherheit neue Institutionen aufgebaut, die vielfach als Beispiel für ein abolitionistisches Modell gelten. Hierbei stehen zwei Institutionen im Zentrum, eine professionalisierte Organisation für innere Sicherheit – die Asayish – und die Zivilverteidigungskräfte (HPC) – eine von Freiwilligen betriebene Organisation nachbarschaftlichen Selbstschutzes. Nach Aussage der Sicherheitskräfte unterscheiden sich diese erheblich von einer Polizei, wie wir sie kennen. Wie uns Asim Amed, Rechtsberater der Inneren Sicherheitskräfte von Nord- und Ost-Syrien erklärt:

The importance of this matter lies in the fact that there are significant differences between our work system and the police work system, as there are many agencies and departments that the police do not have. In addition to issues related to looking into complaints and criminal offenses for the sake of security, we also provide public services to citizens, such as the emergency and ambulance department, which contributes to providing ambulance services to citizens, in addition to organizing traffic as well as organizing the institution legally, and protecting archaeological sites.

Asim Amed, Rechtsberater der Asayish

Als weiteres Beispiel führt Asim Amed seine eigene Arbeitsstelle beim Allgemeinen Rechtsbüro der Inneren Sicherheit an: „This section does not exist in the police institutions, this section monitors the extent of the commitment of the Internal Security Forces to implement laws as bodies obligated to enforce the law, in addition to following up the institution’s judicial procedures and the extent of members’ commitment to implementing laws accurately.“

Einheiten der HPC-Jin in Rojava
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Einheiten der HPC-Jin in Rojava

Die Besonderheit des Modells Rojava kommt auch in der HPC zum Ausdruck. Die HPC ist eine von Freiwilligen betriebene Organisation nachbarschaftlichen Selbstschutzes, die wie die Asayish und quasi alle anderen Strukturen in Rojava Teil des Rätesystems ist und sowohl gemischtgeschlechtliche als auch autonome weibliche Verbände hat. Wie Zibeda Eli, Koordinatorin der HPC in Qamishlo und der Region Dschazīra in einem Interview mit dem Rojava Information Center ausführt, geht ihr Arbeitsfeld jedoch deutlich über klassische Polizeiarbeit hinaus. Das zeige sich insbesondere im Bereich der Frauenbefreiung, für die die HPC-Jin, die autonome Frauenorganisation der HPC zuständig ist:

We want to help those women who are being oppressed and who are experiencing difficulties to improve their quality of life. As HPC-Jin we have the right to get involved in anything that concerns women. For example, if a women is being beaten or mistreated by her husband, or if she is being oppressed, we have a right to step in to end the mistreatment of the woman. We also go visit people in civil society and listen to what they have to say and they can tell us what they are struggling with.

Zibeda Eli, Koordinatorin der HPC

Dabei spielen gesellschaftliche Aufklärung und Selbstermächtigung eine große Rolle. Wie Samira Mihemed, Koordination der HPC-Jin für Qamishlo erklärt: „For a long time the women here have been looked down upon and only been considered good for marriage. This is something we want to change. That is why we give educations and seminars for women on women’s rights and women’s history, so that they can get to know themselves and their rights and through that empower themselves. And we also give educations that are more militarily focused because self-defence is a big part of empowering women. All women should know how to defend themselves.“

Frauen der autonomen HPC-Jin in Nord-Syrien
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Frauen der autonomen HPC-Jin in Nord-Syrien

Die Angehörigen der Sicherheitskräfte betonen, dass sich ihre Institutionen sowohl von den denen des syrischen Regimes als auch den in der Kritik stehenden Polizei in den USA und dem Westen fundamental unterscheiden. Dabei wird vor allem darauf verwiesen, dass die Einheiten in der Gesellschaft verankert sind und dieser dienen – und nicht dem Staat. Wie uns Asim Amed berichtet: „Our experience is considered successful compared to the police, which has become a service to the state system and not to society, and any abuse of power exposes its owner to legal and criminal accountability.“

Gerade diese Eingebundenheit in die Gesellschaft ist es, die laut Ercan Ayboga die Asayish und die HPC von der Polizei hierzulande unterscheidet. Ercan, der 2014 und 2017 zwei ausgiebige Forschungsreisen nach Rojava unternommen und dabei auch die Asayish befragt und bei ihrer Arbeit begleitet hat, erklärt uns:

Die Asayish unterstehen nicht einem zentralen Ministerium, sie sind stattdessen Teil der demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen, die es in Rojava/Nord-Ost-Syrien gibt, sei es Stadtteil, Bezirk, Kanton und Nord-Ost-Syrien. Wenn der Rat eines Stadtteils zusammenkommt, dann sind auch Vertreter der Asayish dabei, dort müssen sie berichten, was passiert ist, wieso das passiert ist, Antworten geben und mit dem Volksrat zusammen beschließen, was in Zukunft gemacht wird. Das ist ein Unterschied ob das ein Ministerium macht. Auch auf Bezirksebene und im Volksrat sind sie dabei. Die Asayish sind also Teil der rätedemokratischen Strukturen und müssen dort Rechenschaft abgeben. Das ist ein wichtiger Mechanismus um autoritäre Strukturen/hierarchische Strukturen vorzubeugen.

Ercan Ayboga, Autor

Die Asayish selbst sind demokratischer organisiert als die Polizeien hierzulande.

Ercan Ayboga

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Dazu kommt ein zweiter wesentlicher Aspekt, nämlich die interne Organisation der Asayish: „Die Asayish selbst sind demokratischer organisiert als die Polizeien hierzulande. Ihre Leitung und Koordination wählen sie in der Regel selbst. Das ist ebenfalls ein gravierender Unterschied. Und das macht sie natürlich bevölkerungsnäher und demokratischer und weniger autoritär und repressiv.“ Gleichzeitig gibt es auch Bereiche, in denen sich die Praxis selbst weniger von jener der Polizei unterscheidet, was laut Ercan Ayboga unter anderem der erheblichen Terrorgefahr geschuldet ist. So patrouillieren die Asayish etwa in den Stadtteilen und betreiben Checkpoints. Sie nehmen auch Leute fest, wenn es beispielsweise zu Fällen von Mord, Vergewaltigung oder eben Terrorangriffen kommt. Dabei wird – zumindest laut Ercan Ayboga – sowohl bei Festnahmen als auch Kontrollen darauf geachtet möglichst freundlich und anti-hierarchisch zu agieren.

Sicherheitskraft der HPC-Jin in Rojava
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Sicherheitskraft der HPC-Jin in Rojava

Er verweist dennoch auf die Kritik von Menschenrechtsorganisationen, die unter anderem Gewalt gegenüber der politischen Opposition in Nordsyrien kritisieren. Im Interview sagt uns Ercan Ayboga, dass die Asayish aus diesen Vorfällen gelernt hätten und seitdem verstärkt darauf hingearbeitet würde, auf Gewalt und Willkür zu verzichten. Auch das Verhältnis zur politischen Opposition und nicht-kurdischen Minderheiten sei besser geworden. Außerdem weist er auf den prozesshaften Charakter der gesellschaftlichen Transformation hin und erzählt das am Beispiel der Befreiung einer Stadt:

Wir waren dort, als die Gegend erst kurz zuvor befreit wurde, haben uns also sehr vorsichtig bewegt, nur zwei oder drei Stellen waren wirklich sicher. In den Gegenden, in denen die SDF viele arabische Gebiete erobert hat, gab es große Vorbehalte. Der Baathismus und der IS, Autoritarismus und Nationalismus haben die Menschen geprägt – über Jahrzehnte. Es dauert immer eine gewiße Zeit, bis es klappt Menschen in politische Strukturen einzubinden. Es ist immer ein Prozess, aber mit der Zeit ist es viel besser geworden. Es gibt auch heute noch Dörfer, wo der IS seine Zellen hat. Der IS hatte dort zeitweise bedeutende Unterstützung, aber die haben sie eingebüßt. Weil die Menschen gesehen haben, dass sie nicht unterdrückt und vernachlässigt werden, und Grundgüter wie Getreide oder Öl gleichmäßig verteilt werden. Dadurch nehmen Rassismus und Nationalismus ab. Dann bauen sie ihre eigenen Kommunen auf. Dieser Prozess führt dazu, dass die Beziehungen besser werden.

Ercan Ayboga, Autor

Ja, es ist Freiheitsentzug, aber es wird der Versuch unternommen, das so human wie möglich zu gestalten.

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Generell erscheint das Modell aus Ercans Sicht als Erfolg, auch wenn die konkrete Praxis oft nicht fundamental anders ist, wie er am Beispiel der Gewahrsamszellen ausführt: „Ja, es ist Freiheitsentzug, aber es wird der Versuch unternommen, das so human wie möglich zu gestalten. Nicht unbedingt außergewöhnlich aber viel besser als syrische Vorläufer, ein Riesensprung nach vorne.“ Auch die Kriminalität sei nach einem anfänglichen Anstieg 2012 und 2013 zurückgegangen und liege inzwischen unterhalb der Kriminalität vor dem Beginn der syrischen Revolution, was für Ercan Ayboga auch daran liegt, dass soziale Probleme im Kontext der Selbstverwaltung demokratisch bearbeitet werden können.

Es ist also definitiv nicht alles perfekt in Rojava und die Idealisierung des Projekts bleibt ein Problem, aber es unterscheidet sich gerade durch die Einbindung der Asayish in die rätedemokratischen Strukturen von der hiesigen Polizei erheblich. Klar ist aber auch, Abolitionismus ist ein Prozess, der vielleicht noch sehr lange dauern wird.