
And the heart goes to...
Seit 19 Wochen liegt Julia auf der Intensivstation. Sie wartet auf ein neues Herz. Eltern, die Schwestern und die Ärztin weichen nicht mehr von ihrer Seite und führen einen kräftezehrenden Kampf gegen die Zeit.
Durch das Fenster im neunten Stock sieht man, wie sich die Nacht über München legt – die Nacht der Oscar-Verleihung. Der Geruch der Desinfektionsmittel stört das Gefühl, über den Wolken zu schweben. Es ist still geworden in der Kinderkardiologie. Nur aus dem Schwesternzimmer lärmt Betriebsamkeit. Von den Bildern an der Wand starren Spongebob und die Maus auf lange, leere, graue Flure. Die Menschen, die hier leben, warten. Manche Wochen. Viele Monate. Die meisten Jahre. Sie warten auf die Worte: “And the heart goes to…”
Dr. Sarah Kohler darf den Satz vollenden. Wahrscheinlich wird die 29-Jährige die gleiche weiße Hose, das gleiche grüne Arzt-Hemd und den gleichen Dutt tragen. Wenn das Telefon klingelt, hat für irgendeinen ihrer kleinen Patienten das Warten ein Ende. „Die gute Nachricht überbringen“, nennt sie das. Dr. Kohler macht sich Notizen auf einem Klemmbrett. Beginn der Nachtschicht. Ihre fünfte in Folge. Für 15 Kinder trägt sie bis zum Morgen Verantwortung. Sechs auf Intensiv, neun auf der Normalstation. Zwei hoffen auf ein neues Herz.
Kleine Hauptdarstellerin
Jeden Abend betet Julia, die Engel mögen ihr ein Herz schenken. So haben es ihr die Eltern erklärt. Die 6-Jährige hat sich alles zusammengereimt: Erst kommt ein „komischer Schlaf“. Dann nimmt eine Maschine das schwache Herz raus und baut das starke ein. „Die Narben hat sie bei anderen gesehen“, sagt ihre Mutter.
Sie weicht Julia nicht mehr von der Seite. Morgens, mittags, abends, nachts. Auf einem Klappbett schläft sie neben Julia. Via Facebook versucht sie, Kontakte mit Freunden aufrechtzuhalten. Sie liest. Spielt mit Julia. „Man lebt von Essen zu Essen“, sagt sie. Einmal im Monat fährt sie für ein Wochenende heim nach Füssen. Ihr 4-jähriger Sohn Ludwig lebt jetzt bei den Großeltern. Für Julias Mama ist die Rangordnung klar: „Ludwig leidet am meisten!“ Dann kommt Julias Papa. Der Werkzeugmechaniker arbeitet von Montag bis Freitag. Seine Frau und Julia sieht er nur an Wochenenden. Dann übernimmt er die Bettwache. „Was das für die Beziehung bedeutet, kann man sich ja denken“, sagt er. Manchmal ruft er nachts an. Fragt besorgt. Am besten gehe es Julia, finden beide Eltern. Wie eine „kleine Prinzessin“ genieße sie die Aufmerksamkeit. Sie ist zugleich Hauptdarstellerin und Publikum für Eltern, Klinikclowns, Musiktherapeuten, Erzieher, Schwestern und Ärzte.

Im Dienstzimmer läuft der Fernseher. Während die beste Hauptdarstellerin über die Stufen zur goldenen Trophäe stolpert, flimmern auf dem Bildschirm daneben Herzfrequenzen. Die Schwestern verfolgen die Oscars kaum. Alarmglocken halten alle auf Trab. Das “Berlin heart” der fünf Monate alten Lisa bereitet Sorgen. Wie eine rote Glühbirne hängt das externe Kunstherz aus ihrem Bauch. Es pumpt nicht richtig. 365 Tage, erzählt Schwester Isabell, sei der Überlebensrekord am Berlin heart auf Station. Dr. Kohler untersucht es mit einer Taschenlampe, die fast so groß wie Lisa ist. Lisa wartet auf ein Herz. Ohne Eltern – die sind auf der Intensivstation nachts nicht erlaubt.
Was geschah mit den Spendern?
Meist kommt der Anruf nachts. „Etwas ganz Besonderes ist das“, sagt Dr. Kohler. Eine komische Stimmung herrsche auf Station. „Jeder freut sich und weiß, was zu tun ist. Zugleich denkt man an den Spender – was da passiert ist.“ Ein Mensch stirbt. Zwei Ärzte stellen unabhängig voneinander den Hirntod fest. Im EEG dürfen keine Hirnströme nachweisbar sein. Die Angst vor verfrühter Diagnose hält Dr. Kohler für unbegründet. Die Atmung werde nur künstlich aufrechterhalten, um die Organe zu schützen. Zuckungen nach dem Hirntod wären keine Bewegungen eines lebenden Menschen mehr. Diese reflexhaften Muskelzuckungen kenne man bei der Tötung von Tieren. Ein Indiz für Leben sei das nicht. – Hat der Patient keinen Spenderausweis, entscheiden die Angehörigen. „Man glaubt über den Tod zu bestimmen. In dieser Situation kann man das nicht“, findet Dr. Kohler. Damit sich jeder mit der Thematik beschäftigt, plädiert sie für eine Widerspruchsregelung. Grundsätzlich wäre damit jeder Spender.
Die Stiftung Eurotransplant vermittelt die Organe weiter. Nach Größe, Alter und Dringlichkeit wird jeder Wartende gelistet. Sie kontaktieren den Chirurgen. Der entscheidet, ob das Organ passt. Manchmal erhält eine 15-Jährige das Herz einer 50-Jährigen. Maßgeblich sind Immunologie und Gewicht. Weil Eurotransplant letzteres nicht listet, müssen die Operateure auch Organe ablehnen. Kleinstkinder können nur Herzen anderer Kleinstkinder empfangen. Erst am Schluss erfährt die Station die „gute Nachricht“. Zuletzt die Eltern und die Kinder.
Seit 19 Wochen liegt das Leben auf Eis
„Das ist der Tag, den man sich am meisten wünscht und über den man am wenigsten nachdenkt“, sagt Julias Vater. Er sitzt an einem leeren Tisch. Spitzbart. T-Shirt. Er blickt nachdenklich nach oben. Julia schläft schon. Pause von der Pause. „Das Leben ist auf Eis gelegt“, stellt er fest. Nach 19 Wochen auf Station schwindet ihm die Geduld. Bis zu zwei Jahre Wartezeit haben die Ärzte in Aussicht gestellt. Das letzte Weihnachten und Silvester hat die Familie schon auf Station verbracht. Die Schwestern haben für Julia ein kleines Tischfeuerwerk gemacht. Vorsichtig, damit die Rauchmelder nicht Alarm auslösen. Seit Julia im November gelistet wurde, darf sie die Station nicht mehr verlassen. Auflage von Eurotransplant für die Listung mit der Stufe “high urgency”.

„Wer nicht stationär wartet, erhält kein Organ“, erklärt Dr. Kohler. Seit dem Organspende-Skandal ist der Spendermangel eklatant. 2013 waren 1.250 Erwachsene und Kinder bei Eurotransplant für ein Herz gelistet. 563 Transplantationen wurden durchgeführt. Auf der Station von Dr. Kohler werden jährlich etwa fünf Kinderherzen transplantiert. Sie könne den Wunsch verstehen, Wartelisten zugunsten eigener Patienten zu beeinflussen. Zu rechtfertigen sei das aber niemals. Erreicht worden sei allein Misstrauen und die Verlängerung der Wartezeit für alle. „Ein Skandal wäre nur gewesen, wenn sie die Organe weggeschmissen hätten“, meint Julias Mutter. Immerhin hätten die Organe kranken Menschen geholfen. Soweit die Ärzte sich nicht dadurch bereichern, kann sie die Versuchung verstehen, den eigenen Patienten einen Vorteil verschaffen zu wollen. Als Mutter ist für sie aber nur eines von wirklicher Bedeutung: „Die Wartezeit für Julia ist jetzt noch länger.“
Nach 15 Jahren müsste Julia wieder warten
Jeden Morgen wacht Julias Mama auf und ist enttäuscht. Wieder haben die Engel Julias Gebet nicht erhört. Sie hat Zeit zum Nachdenken. Wenn ihre Tochter sterben sollte, möchte sie Julias Organe spenden. Bis dahin will sie es wie Beppo der Straßenkehrer aus Momo halten: Nicht die ganze Straße anschauen. „Gute Laune hilft“, nennt das ihr Mann. Er will die Spenderseite vergessen. „Pervers“, nennt er es, eine Organspende seiner Tochter zu diskutieren, solange für sie Hoffnung besteht. Über ethische Fragen zur Organspende möchte er nicht sprechen. Er selbst hat einen Spenderausweis – wie seine Frau. „Man hofft einfach, dass man zu den Guten gehört“, sagt er. Sein Ziel ist ein lebenswertes Leben für Julia. Das beginne mit Bewegungsfreiheit. Dem Gegensatz zum Jetzt. Mit einem Spenderherz kann Julia auf 15 Jahre hoffen. Dann muss sie wieder warten.
Nach der Transplantation kommt Urlaub, haben ihr die Eltern gesagt. Über Kosten und Risiken reden die Eltern und Dr. Kohler wenig. Entscheidend ist für die Ärztin die „zweite Chance“, die „Verantwortung für zwei Leben“. Als Streberin bezeichnen sie die Schwestern. Als jemand, der mit Leib und Seele dabei ist, sich engagiert. Für ihre kleinen Patienten und deren Eltern ist sie Ansprechpartnerin. Vielleicht wird irgendwann das Telefon klingeln und die „gute Nachricht“ eintreffen. Vielleicht wird Sarah Kohler den Satz vollenden dürfen: And the heart goes to… Dann hat das Warten für einen Nominierten ein Ende. Es wird hektisch auf den grauen Fluren. Hauptdarsteller, Nebendarsteller und die gesamte Crew werden sich unendlich freuen. Doch zwischen Hollywood und Krankenhaus besteht ein entscheidender Unterschied – die Herzverleihung ist für keinen der Betroffenen eine Show.